Die Zukunft der Medizin ist divers

Die Körper von Männern und Frauen unterscheiden sich deutlich, das muss berücksichtigen, wer Medikamente entwickelt, Patient:innen diagnostiziert und behandelt. PD Dr. med. Ute Seeland ist Fachärztin für Innere Medizin und Gendermedizin am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité in Berlin. Als Vorsitzende im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e. V. (DGesGM) setzt sie sich für die Förderung der Geschlechterforschung ein. Im Interview erklärt Seeland, was eine geschlechterspezifische Medizin ausmacht und warum sie für alle Patient:innen wichtig ist.  

UM.Update: Was muss man sich unter dem Begriff geschlechtersensible oder geschlechterspezifische Medizin vorstellen?

Ute Seeland: Medizin ist geschlechterspezifisch, wenn sie – ob in der Forschung oder in Krankenversorgung und Pflege – die Unterschiede zwischen den Geschlechtern berücksichtigt. Die Körper von Männern und Frauen sind verschieden, das muss man bei der Entwicklung von Medikamenten, bei der Diagnostik und bei der Behandlung im Blick haben. Und eigentlich muss man den Blick noch mehr weiten: Neben dem biologischen Geschlecht spielen in der Medizin auch das soziokulturelle Geschlecht und weitere Dimensionen von Diversität eine wichtige Rolle, zum Beispiel das Alter.

Warum ist das so wichtig

Nehmen Sie beispielsweise den Herzinfarkt. Es herrscht die Vorstellung, dass insbesondere Männer ab einem bestimmten Alter Herzinfarkte bekommen. Sogar Laien kennen die Symptome: ein Schmerz in der linken Brust, der in den linken Arm ausstrahlt. Nur: Auch Frauen bekommen Herzinfarkte, allerdings können bei ihnen die Symptome anders sein. Außerdem sind vor allem bei jüngeren Frauen die Infarkte besonders gefährlich. Das muss man als Mediziner:in wissen, um richtige Diagnosen stellen und richtig handeln zu können. Andersherum werden Männer viel seltener auf Osteoporose getestet; die Krankheit wird immer noch eher bei Frauen vermutet. Tatsächlich sind aber auch ältere Männer betroffen. Depressionen sind auch so ein Fall, bei dem die typischen Symptome weiblicher Patientinnen eher bekannt sind und erkannt werden – Traurigkeit, Lethargie und so weiter. Bei Männern kann aggressives Verhalten eine Depression anzeigen. Entwickelt man ein Medikament, ist es auch wichtig, Männer und Frauen differenziert zu betrachten: Die Körper und die Stoffwechsel von Frauen und Männern sind sehr unterschiedlich. Medikamente, die in einem männlichen Körper eine gute Wirkung zeigen, können bei Frauen anders funktionieren.

Es profitieren also Männer und Frauen gleichermaßen davon, wenn die Medizin diverser und differenzierter wird?

Unbedingt. Ungleichheit besteht auf allen Seiten. Je differenzierter Ärzt:innen und Forscher:innen denken und arbeiten, desto besser, desto sicherer wird die medizinische Versorgung für alle Menschen. Damit wächst auch das Vertrauen von Patient:innen in die Krankenversorgung. Mediziner:innen müssen sich eine geschlechterspezifische Perspektive aneignen und Patient:innen müssen darin bestärkt werden, diese auch einzufordern. Es sollte selbstverständlich sein, beim Arztbesuch nachzufragen, ob sich eine Behandlungsmethode denn auch für Frauen eignet. Man sollte Nebenwirkungen, die man am eigenen Körper wahrnimmt, auch ernst nehmen und darüber sprechen. Auch wenn Ärzt:innen sie für ausgeschlossen halten. Vielleicht wurden sie wegen einer einseitigen Studie nur nie beobachtet.

Dass die Körper von Männern und Frauen verschieden sind, ist doch eigentlich sonnenklar. Warum sind die medizinische Forschung, die Krankenversorgung und auch die medizinische Ausbildung so wenig darauf ausgerichtet?

Das hat unterschiedliche Gründe. Der Körper von Frauen verändert sich stärker als der von Männern, sie erleben kurz- und langfristig stärkere hormonelle Umstellungen. Das macht es schwieriger, Frauen in der medizinischen Forschung zu berücksichtigen, es gibt bei Studien viel mehr Faktoren zu beachten. Lange Zeit wurde deswegen auf männliche Probanden zurückgegriffen. Das ist einfach einfacher. Dann herrschte lange ein sehr eingeschränkter Blick auf unseren Körper vor: Frauen wurden in der Medizin dann gesondert berücksichtigt, wenn es um die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale ging. Der Rest wurde über einen männlichen Kamm geschoren. Lange wussten wir nicht einmal, wie weitreichend die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern oder gar Zellen überhaupt sind.

Woher kommt diese männliche Perspektive in der Medizin?

Im Prinzip müssen wir bis zur Gründung der ersten Universitäten und medizinischen Fakultäten zurückblicken, um das zu verstehen: Frauen hatten lange Zeit großes Wissen um Gesundheit und Medizin. An den ersten Universitäten aber waren sie nicht zugelassen, weder als Lehrende noch als Lernende. So wurde Medizin zur Männerdomäne.

Und heute? ist die Perspektive geschlechterspezifischer, diverser geworden?

Ja. Deutschland hat zwar im internationalen Vergleich Nachholbedarf, keine Frage, aber wir sind auf dem Weg, es gibt politischen Rückenwind. Die Ampel-Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag verankert, dass geschlechterspezifische Medizin Teil der medizinischen Aus- und Fortbildung wird. Studierende fordern das auch immer aktiver ein. Und auch der Entwurf für die neue ärztliche Approbationsordnung sieht diesen Aspekt vor. Wir sind jetzt in der großartigen Position, das umsetzen zu können, wofür starke Frauen seit den 1990er Jahren gestritten haben.

Eine geschlechterspezifische Perspektive in der Krankenversorgung und in der medizinischen Ausbildung zu verankern ist das eine. Wie sehr haben Pharmahersteller dieses Thema im Blick?

Ein Umdenken findet statt. Unternehmen haben das Wohl der Patient:innen genauso im Blick wie finanzielle Aspekte. Und auch dort lässt sich sehr gut für eine geschlechtersensible Medizin und Arzneimittelforschung argumentieren: Natürlich ist es teurer bei der Entwicklung eines Medikaments Geschlechterunterschiede und weitere Dimensionen von Diversität in den Blick zu nehmen. Aber noch teurer und fataler ist es, wenn ein Medikament wieder vom Markt genommen werden muss, weil es bei Frauen nicht wirkt oder für sie unerwartete Nebenwirkungen hat.

Forschung und Lehre, Krankenversorgung und auch die Industrie entdecken die geschlechterspezifische Perspektive. Gibt es noch Hürden für eine diversere Medizin?

Es gibt eine sehr aktuelle Entwicklung, die mir Sorge bereitet: Der vermehrte Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin, egal ob bei der Forschung oder bei der Diagnostik. Solche KIs benötigen große Mengen an Daten, anhand derer sie „lernen” und dann in einem Einzelfall unsere Entscheidungen unterstützen. Nur: Diese Datenmengen, die in den vergangenen Jahren gesammelt wurden und nun genutzt werden, um KIs zu trainieren, die haben ja alle den männlichen Bias, stammen in der Mehrzahl von männlichen Probanden. Wo wir bereits diverser denken, besteht die Gefahr, dass die Maschinen hinterher hinken. Hier müssen wir sensibilisieren und mit Nachdruck für eine geschlechterspezifische Medizin kämpfen.


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PD Dr. med. Ute Seeland
(Foto: Kathrin Harms)

Geschlechterspezifische Medizin an der Unimedizin Mainz

Ute Seeland war 2021 die Inhaberin der Klara Marie Faßbinder-Gastprofessur an der UM Mainz, ihre Antritts- vorlesung stellte sie unter den Titel „Exzellente Medizin ist geschlechtersensibel”.

Seeland gehört zusammen mit der Gleichstellungs- beauftragten für wissen- schaftliche Beschäftigte an der UM Mainz, Dr. Birgitt Pfeiffer, und anderen engagierten Mediziner:innen zu den Mitbegründer:innen einer Arbeitsgruppe, die das erste Fachsymposium zur Lehre von Geschlechter- sensibler Medizin initiierte, das im Februar 2023 an der UM Mainz stattfand.

Das Interview ist erschienen im Newsletter der Stabs- stelle Unternehmens- kommunikation der Universitätsmedizin Mainz, UM.Update Ausgabe 10 – Juli 2023.

Interview: Sven Müller
Kontakt:  pr@unimedizin-mainz.de

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