Leseempfehlungen

Elke Heidenreich: Altern

Martin Weber: Begleiter in der Dunkelheit

Elena Fischer: Paradise Garden

Simone Lappert: Der Sprung

Annie Ernaux: Eine Frau

Stefan Moster: Neringa oder Die andere Art der Heimkehr

Lizzie Doron: Der Anfang von etwas Schönem

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Benedict Wells: Fast genial

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

Helga Schubert: Vom Aufstehen

Bernhard Schlink: Olga

Tonio Schachinger: Nicht wie ihr

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse

Alexander Oetker: Rue de Paradis

Ian McEwan: Abbitte

Alex Lépic: Lacroix und die stille Nacht von Montmartre

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann

Martin Kordić: Jahre mit Martha

Colleen Hoover: Finding Perfect

Norbert Gstrein: Der zweite Jakob

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie

Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Alex Capus: Léon und Louise

Mechthild Borrmann: Der Geiger

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Yasmine Ghata: Die Nacht der Kalligraphen

Caroline Vermalle: Denn das Glück ist eine Reise

Anne Gesthuysen: Mädelsabend

Gerald Hüther: Raus aus der Demenzfalle!

Jhumpa Lahiri: Einmal im Leben. Eine Liebesgeschichte

Lutz Seiler: Stern 111

Petra Haller: Meine wundervolle Buchhandlung

Thommie Bayer: Fallers große Liebe

Eva Demski: Gartengeschichten

Stefan Klein: Da Vincis Vermächtnis oder wie Leonardo die Welt neu erfand

Britta Heidemann: Willkommen im Reich der Gegensätze. China hautnah

Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer

Dörte Hansen: Mittagsstunde

Dörte Hansen: Altes Land

Saša Stanišić: Herkunft

Carlos Ruiz Zafón: Marina

Elizabeth Strout: Mit Blick aufs Meer

Jojo Moyes: Weit weg und ganz nah

Marc Levy: Solange du da bist

Anne Kanis: Nichts als ein Garten

Marie-Sabine Roger: Das Leben ist ein listiger Kater

Anita Shreve: Die Nacht am Strand

Christiane Neudecker: Sommernovelle

Elke Heidenreich: Altern

Hanser Verlag Berlin

"Mir jedenfalls war die Abfassung dieses Buches so angenehm, dass sie nicht nur sämtliche Beschwerden des Alters beseitigt, sondern das Alter sogar behaglich und angenehm gemacht hat."
Cicero, De senectute

Das scheint ein Motto für Elke Heidenreich zu sein, zu dem sie sich immer wieder bekennt und selbst motiviert, fast wie eine Selbst-Disziplinierung.
ALTERN ist ein schlaues Buch voller Zitate bekannter Persönlichkeiten. Heidenreich muss sehr fleißig recherchiert haben in der Literatur von Julien Green, Schopenhauer, Seneca, Oskar Wilde, Hugo von Hoffmannsthal, Simon de Beauvoir, und vielen anderen. Aber sie zitiert auch die filmemacherin Doris Dörrie und Keith Richards (Rolling Stones). Zunächst dachte ich, warum lässt sie ihre Bildung so heraushängen? Aber sie lebt mit und von der Literatur. Sie gewinnt daraus Trost und Erkenntnis. Lesen ist für sie existenziell, und auch Musik und Theater spielen für sie eine ähnlich große Rolle.

Ihr Buch beginnt mit zwei Selbst-Betrachtungen ihrer Biografie - einer positiven und einer negativen. Einerseits sieht sie sich als ein einsames Kind, die Eltern haben sich nicht verstanden, haben nur gearbeitet und hatten kaum Zeit für die kleine Elke. Andererseits hatte sie viel Freiheit, konnte sich unbeeinflusst entwickeln. Diese Betrachtungsweisen ziehen sich durch ihr ganzes Leben. Sie lässt sich wenig sagen, hält mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg, macht sich unbeliebt, fühlt sich aber auch einsam. Ein wichtiger Teil ihres Charakters ist ihr Drang nach Aktivität und ihre Arbeitswut. Ihr ist bewusst, dass das für ihre Freund:Innen, Ehemänner oft zu anstrengend ist. Ständiges Arbeiten hält sie ab von sozialen Kontakten. Sie ist oft allein. Das scheint sie einerseits zu ängstigen, andererseits gehört es für sie zum Überlebenstraining im Alter. Sie schreibt: "Was soll ich machen, ich fühle mich einfach noch sehr lebendig, und meine Arbeit macht mir immer Freude" und "Ich glaube, dass es jenseits von wirtschaftlichem Nutzen für jeden Menschen unbedingt eine Tätigkeit geben muss, die seinem Leben Sinn geben." Also aktiv sein, sich sozial engagieren, statt am Telefon zu sitzen und sich zu beklagen, dass "mich kein Schwein anruft", wie die Comedian Harmonists einmal sangen. Sie appelliert an ältere Menschen: "Mit achtzig sollte man mehr an die Gegenwart denken, vor der Vergangenheit muss man sich mitunter hüten, alten Kummer schlafen lassen, und die Zukunft ist eh nur noch eine vage Option. Die kommt von allein, und schnell, und dann werden wir schon sehen". Das scheint eine Art Selbstschutz zu sein, um sich vor Melancholie oder Depression zu schätzen.

Ihre Angst vor Gebrechlichkeit im Alter äußert sich u. a. in ihrer Abscheu vor Tablettenschiebern. Sie schlägt vor, lieber ein schönfarbiges Döschen für morgens, mittags und abends stattdessen zu verwenden. Doch sie arrangiert sich mit der Notwendigkeit, im Alter abzuwägen, was wichtig ist und auch das Loslassen und die Reduktion zu üben. "Dann gehen beim Schwimmen eben nur noch 10 Bahnen statt früher 20". Sie macht sich scheinbar "weder über das Damals noch über das Jetzt etwas vor. Und auch ich wehre mich gegen das, was Campbell 'Enteignung' nennt, - die Anhäufung von Krankheiten, Beschwerden, Falten, aber in Wirklichkeit (ist es) ein Prozess der Enteignung, Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen".

In diesem Buch habe ich viele Gedanken gefunden, die mir auch schon durch den Kopf gegangen sind. Das ist seine Stärke. Und dass Angst, Zweifel, aber auch Zorn beschrieben werden. Es ist eher eine Zustandsbeschreibung als ein Ratgeber. Am Ende nimmt sie das Gleichnis mit dem Pfeil wieder auf, der zu Beginn des Lebens losfliegt bis zum Countdown. Ja und beim letzten Gedanken in ihrem Buch habe ich geweint - aber lesen Sie selbst.

MS

Martin Weber: Begleiter in der Dunkelheit

Patmos Verlag

Kaum jemand, der Professor Martin Weber in Mainz nicht kennt, einen der Wegbereiter der Hospizarbeit und Palliativmedizin in Deutschland! 17 Jahre bis zum Ruhestand 2022 leitete er die Palliativstation am Mainzer Universitätsklinikum, kämpfte erfolgreich über Jahre für die Anerkennung der Palliativmedizin und für ihre akademische Etablierung in Forschung und Lehre. Nach seiner Habilitation übernahm Weber 2010 die palliativmedizinische Stiftungsprofessur.

Über seine Entscheidung für die Arbeit "auf den äußersten Posten des Lebens", den Kampf um Anerkennung seines Einsatzes für Menschen, deren Lebenszeit unweigerlich zu Ende geht, Berufsverständnis, Menschen- und Gottesbild, Arbeitsalltag und Ausbildung berichtet er in einem 2022 erschienenen Buch. Entstanden aus einem Gespräch mit dem Journalisten und Theologen Michael Albus, nimmt es uns mit auf Webers Weg als 'Begleiter durch die Dunkelheit'. Diese Formulierung drückt aus, was sich in Webers Selbstverständnis widerspiegelt: Die Konfrontation mit dem unausweichlichen Sterben, mit Einsamkeit, Angst und Verzweiflung ist auf seiner Station wie kaum an einem anderen Ort gegenwärtig, aber sie geschieht begleitet und auf Augenhöhe, im gemeinsamen Gehen eines dunklen Wegstückes bis hin zu dem Schritt, den jeder Mensch allein machen muss.

Weber, der sich als Arzt nicht nur in der Sterbephase, sondern in einer ganz extremen Lebensphase versteht, ist zutiefst erfüllt davon, dass er schwerstkranken Menschen dort, wo das Leben sich zuspitzt, ein Partner sein darf. Neben fachlicher Kompetenz und technischer Ausstattung unerlässlich sind dabei der "Faktor Mensch", die menschliche Zuwendung, Empathie, der ganzheitliche Blick auf den Menschen, vor allem aber viel Ruhe und Zeit: für das Schweigen, das Zuhören, für das Reden, für Nähe und Berührung, für Trösten und gemeinsame Tränen. Dass Palliativstationen heute nicht mehr allein als Orte zum Sterben empfunden, sondern als Räume mit Hoffnungszeichen und Licht trotz aller Vergänglichkeit erlebt werden, erfüllt Weber mit Dankbarkeit.
Den Sterbenden ihr 'Lebenshaus' auf Zeit wieder bewohnbar zu machen, ihnen und ihren Angehörigen neue Fenster darin zu öffnen, setzt eigene Stärke voraus, eine gute Erdung, das Aufgehobensein in tragfähigen Beziehungen von Familie und Freunden. Weber lässt uns daran teilhaben, was das für ihn persönlich bedeutet, welche Erfahrungen ihn geprägt haben und spricht von den Menschen, deren Nähe für seine Lebensreise bis zum Ende essentiell ist. Zu der stabilen Fundierung kommt für Weber der weite Blick über dieses Leben hinaus, der Wunsch, "auf der Suche zu bleiben, nach einer Wirklichkeit, die mein Begreifen übersteigt".
Die Grundeinstellungen und Rahmenbedingungen für gelingende Arbeit auf Palliativstationen werden von Weber eindrücklich geschildert. Dort, wo das Heilen nicht mehr möglich ist, wird das Heil-Werden des ganzen Menschen umso zentraler. Der Weg dahin kann nur im Miteinander gelingen, in einem Team aus vielen Professionen, durch Haupt- und Ehrenamtliche, begabt mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, Prägungen und Sichtweisen, die Zeiten und Räume für ihre Patient*innen schaffen.
Dass die Grenzen zwischen "Leib-Sorge" und "Seel-Sorge" in der Palliativ- und Hospizarbeit häufig verschwimmen, haben die Sterbenden auch durch Weber erfahren dürfen. So zu arbeiten und zu leben, ermöglichte ihm seine persönliche Haltung, und um sie zu verstehen, nimmt er uns mit auf seinen eigenen Glaubensweg über Zweifel, Wandlungen, Zuversicht bis hin zu der Hoffnung, dass hinter der letzten Wegstrecke "etwas Gutes ist", das ihn erwartet.

Weber setzt sich auch kritisch mit dem heutigen Gesundheitssystem und seinen hinlänglich bekannten Problemen und Defiziten auseinander. Die beiden Gesprächspartner sind überzeugt davon, dass Gesamtorganisation und Menschenbild auf den entschleunigten, ganzheitlich arbeitenden Palliativstationen den Weg dahin weisen sollten, wie eine heilsame Entwicklung auch in anderen Klinikbereichen verlaufen könnte.
Zur Frage nach dem selbstbestimmten Sterben bezieht Weber klar Position: Er stimmt dem 2020 vom Bundesverfassungsgericht zugestandenen Recht zu, dem eigenen Leben in ausweglosen Situationen ein Ende zu bereiten, doch lehnt er es strikt ab, als Arzt selbst der Ausführende zu sein. Der stattdessen von ihm in solchen Fällen gewählte Weg der Linderung von unertrüglichem Leid mit sedierenden Mitteln hat für ihn einen grundsätzlich anderen Charakter als die Tötung. Mit ihr sieht er eine rote Linie überschritten, die er mit seinem ärztlichen Ethos nicht vereinbaren kann. Wenngleich Weber betont, dass er seine Weigerung nicht religiös überhöhen will, so ist sie doch von einer religiösen Grundhaltung geprägt: Anknüpfend an sein Gottesbild bekennt er: "Wenn ich mich als 'geliebten Sohn' verstehe, dann ist das Leben grundsätzlich kostbar."

Elena Fischer: Paradise Garden

Diogenes Verlag

Die junge Autorin hat mit ihrem Erstlingswerk ein wunderbar leicht zu lesendes Buch veröffentlicht. Nicht nur leicht, sondern so, dass sich die Leser diesem Roman kaum entziehen können, überdies könnte der Eindruck entstehen, es handle sich um eine Autobiografie. Elena Fischers Roman wurde für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.

Protagonistin ist die 14-jährige Billi, die mit ihrer Mutter Marika in einer Hochhaussiedlung, einem sozialen Brennpunkt eines Stadtteils, lebt. Gebürtig sind beide aus Ungarn und dort lebt noch die oft gewalttätige und daher ungeliebte Großmutter mütterlicherseits. Vieles ist für Mutter und Tochter unerreichbar und so versuchen sie, den Alltag zu meistern. Da wundert es nicht, dass beide die Stadt, den Rhein und das größte Kaufhaus der Stadt als etwas Großes, Spektakuläres erleben.
Die Schullaufbahn der in gewisser Weise zielstrebigen Billi scheint unspektakulär zu sein, dagegen wird deren Mutter als unangepasst erlebt, sie bewältigt den Alltag, ihr Leben, quasi jonglierend - denn: Verluste führen oft dazu, nie irgendwo richtig anzukommen. Tröstlich sind nette, junge, überaus hilfreiche Nachbarn.
In diese kleine, irgendwie friedliche Welt bricht zu Beginn der Sommerferien der unerwartete Besuch der ungarischen Großmutter ein, die den Unfalltod der Mutter und Billies merkwürdige, fast unglaubliche Reise mit einem kaputten TÜV-losen Auto an die Nordseeküste - ins Schleswig-Holsteinische? - verursachen wird. Herrndorfs Roman 'Tschick' klingt an. Die Autofahrt gilt der Suche nach dem leiblichen Vater. Hartnäckig stellt sich die Jugendliche allen Widrigkeiten, kontaktfreudig und mutig findet sie die richtigen Personen. Alles wird trotz allem vermeintlich gut.

Aber der Roman zeigt auch eine andere Ebene. Marikas Verhalten deutet auf eine nicht bewältigte, sie traumatisierende Vergangenheit - zeigt im Grunde ein Sich-Abschotten von der Realität und einen planlosen Alltag - wenn auch oft für die Tochter fantasievoll gestaltet. Sie spaltet im Alltag nicht nur ihre Kindheitserfahrungen ab und kann so überaus schmerzliche Erinnerungen vermeiden. Sichtbar wird, wie Billis Identifizierung mit dem Leid der Mutter die eigene Entwicklung zu bremsen scheint. Insgesamt aber erleben die Leser die jugendliche Protagonistin als stark. So dürfte das Mädchen trotz allem immer Personen um sich gehabt haben, die sie versorgten und liebevoll betreuten: ihre Resilienz-Faktoren. Erkennbar wird dies, als sie im hohen Norden auf den vermeintlichen Vater trifft, bei dem sie wohl als Kleinkind längere Zeit gelebt hat.

Fischers Roman nimmt den Lesenden mit - aber er ist keinesfalls nur leicht und witzig wie ein Roadmovie.

EG

Simone Lappert: Der Sprung

Diogenes Verlag

Mainz liest auch im Jahr 2024 ein Buch - diesmal den von der Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert verfassten Roman Der Sprung. Er erschien am 1. September 2019 im Diogenes Verlag.

Die Lesenden erleben mit etlichen anderen sieben hervorgehobene Charaktere. Man könnte meinen, es handle sich um sieben Kurzgeschichten - aber nein, denn alle verbindet das gemeinsame Leben in der kleinen Stadt Thalbach.

Innerhalb von drei Tagen erleben diese Personen ihr Städtchen im Ausnahmezustand. Die ihnen bekannte junge Manu steht auf einem Hausdach und schreit. Sie wird springen, ein Narr, wer etwas anderes annähme.

Jede Person im Umkreis des Ereignisses ist von Neugier und Sensationslust getrieben, einer faszinierenden Lust am Schrecken - unglaublich, dass diese hungrig und durstig macht. So hat das Kaufsmannspaar endlich seinen großartigen Umsatz; das kleine Café am Platz ist überhaupt der Ort. Seine Inhaberin Roswitha kennt nahezu alle und deren Geschichten, überdies bieten die Caféstühle Plätze im ersten Rang.

Nach kurzer Zeit zieht das Buch einen - trotz der gewöhnungsbedürftigen Erzählweise - in den Bann. Man leidet mit Felix, dem Polizisten, lernt Maren die Schneiderin kennen, ebenso Egon, den Schlachter, aber eigentlichen Hutmacher, und Finn, den glücklosen Fahrradkurier - Freund der Manu auf dem Dach. Ebenso zählen Manus Halbschwester Astrid, der obdachlose Henry, das Kaufmannspaar Theres und Werner und etliche andere dazu. Deren Leben und derenTräume, Erinnerungen und Hoffnungen, Aggressionen und ein Sichaufgeben verbinden sich mit dem nicht endenwollenden Verhalten der Manu auf dem Hausdach. Denn Manu fesselt und frustriert die Schaulustigen, nicht zuletzt weil sie - ziemlich ungewöhnlich für potenzielle Selbstmörder - schreiend und balancierend mit Dachpfannen wirft.

Die nach einzelnen Figuren benannten Kapitel vermitteln ein Stimmungsbild über die eigentlich rätselhafte Dramatik eines jäh über sie hereingebrochenen Geschehens. Urplötzlich werden Verbindungen und Beziehungen zwischen diesen Personen sichtbar und zugleich rührt das Ereignis bei fast allen an lange verdrängte sie traumatisierende Erlebnisse. Es sind sichtlich nicht arrivierte enttäuschte Menschen - unvollkommen, defizitär und einsam. Die Cafébesitzerin Roswitha bringt es am Ende im Gespräch mit der auch zutiefst traumatisierten Lokführerin Edna gelassen auf den Punkt (S.269) "Zwei Schildkröten sind wir, dachte sie. Einzelgängerinen, die am besten allein zurechtkommen, ohne Anhang. Nur ab und zu streifen wir uns, nicken einander wissend zu, das reicht."

Endlich kommt Astrid, Manus Halbschwester, steigt nach oben und kann im Gespräch mit der Schwester das "Warum" enträtseln. Manu springt nach vielen, schier endlosen Stunden heil in ein Sprungtuch und wird klinisch betreut.

Vieles wird danach nicht mehr wie vorher sein, was sein könnte, bleibt der Vorstellungskraft der Lesenden überlassen.

EG

Annie Ernaux: Eine Frau

Suhrkamp Verlag

Annie Ernaux bekam als erste französische Schriftstellerin am 10. Dezember 2022 den Nobelpreis für Literatur verliehen. In ihrer Rede1 in Stockholm sagte sie, ihr gehe es in ihren Büchern u.a. darum, den Zorn auf den diskriminierenden Umgang mit Frauen und die Wertschätzung des eigenen Körpers auszudrücken ... "darum, mich in das Unsagbare zu vertiefen, die verdrängten Erinnerungen, und die Lebenswirklichkeit der Menschen, unter denen ich aufgewachsen war, ans Licht zu bringen. Zu schreiben, um die inneren und äußeren Gründe zu begreifen, derentwegen ich mich von meiner Herkunft entfernt hatte."

Schon 1987 erschien in Frankreich das schmale Buch Eine Frau. Es entzieht sich nach dem Willen der Autorin jeder Kategorie. Ernaux sieht es nicht als Biografie, nicht als Roman, sondern eher als etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung (S. 88). Es ist etwas Alltägliches, ein berührendes Lebensbild der Mutter mit Tochter, eine Skizze des französischen Nachkriegsmilieu - und doch wird es in vielem unserem ähnlich gewesen sein. Das Alltägliche nimmt eine völlig andere Dimension an, wenn "der Satz" der Rede, also der Schlüsselsatz und damit die Lebensdevise der Preisträgerin deutlich wird: "Ich werde schreiben, um die Meinen zu rächen."

Ernaux wollte schon früh Schriftstellerin werden, um die soziale Ungerechtigkeit der Geburt zu tilgen, um die erlittenen Beleidigungen und Erniedrigungen zu kompensieren, um die Befreiung der Frau zu erreichen - auch heute noch. Weiterer Beweggrund ihres Schreibens war das eigene erduldete Leben. Sie wollte nur über eigene Erlebnisse schreiben, in nüchterner präziser Sprache. Insbesondere für all das hatte sie nun das Nobelpreiskomitee ausgezeichnet - für "ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt."

Vor diesem Hintergrund verfasst Ernaux "Dreizehn Tage nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1986 - so der Klappentext des Buchs - ein kurzes, schmerzhaftes Requiem. Und lässt die Mutter als Repräsentantin einer Zeit und eines Milieus auferstehen, das auch das ihre war". überdies geht sie ihre Themen in merkwürdig anmutender Weise an, denn sie beschreibt sich als Sezierende, als Archäologin in eigener Sache, als Ethnologin ihrer selbst. Dennoch liest sich dieser kleine Band leicht - auch wenn Wut, Ohnmacht und Verzweiflung spürbar sind und die Autorin begleiten. Es geht um Nöte und Konflikte der Kriegs- und Nachkriegszeit, um Armut und Beschränkungen, die Mühsal der Arbeiter und kleinen Kaufleute in einem unbedeutenden Ort der Normandie - aber nach dem 2. Weltkrieg geht es aufwärts. Die Eltern des Einzelkindes, bald Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Kneipe und einem Auto, fördern Annie E. in vieler Hinsicht - soweit es Herkunft und Stand entspricht. Die Tochter jedoch konnte später, wie von der Mutter ersehnt, in die ihr selbst "verschlossene Welt der Wörter und Ideen" wechseln. Sie erkennt, dass "Welten liegen zwischen tatsächlicher Bildung und dem Wunsch nach Bildung (S. 53).
Dieses bestimmt oft frustrierende Spannungsfeld erinnernd schildert Ernaux ihre Beziehung zur Mutter. Es entsteht ein Bild von der Mutter und eines einer nicht ungewöhnlichen Mutter-Tochter- Beziehung: liebevoll, stressig, aufreibend und missverständlich, etwas zwischen Verstehen und Nichtverstehen, etwas, das sich mit zunehmender Ausbildung und dem Studium der Tochter (sogar in London) verstärkt,
Opferbereitschaft aufseiten der Mutter und Annahme bzw. Abgrenzung vonseiten der Tochter. Die Autorin dokumentiert trotz allem und über allem ihre unendliche Liebe und Fürsorge für die Mutter, Dankbarkeit und Verantwortung für die alternde und schließlich kranke Frau einhergehend mit Resignation und Unbehagen der Tochter darüber, den elterlichen Verhältnissen entwachsen zu sein.

Ein Fazit? Vielleicht das der Literaturkritikerin Sandra Kegel: "Annie Ernaux gelingt es in "Eine Frau", ihre Mutter gleichermaßen kompromisslos und zärtlich zu beschreiben, entlarvend und mitfühlend. Das lässt die ganze Ambivalenz dieser Mutter-Tochter-Beziehung greifbar werden, die sich im Laufe ihrer beiden Leben immer wieder neu sortiert hat".2

EG

1 Die Nobelpreisrede von Annie Ernaux
2 Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.11.2019

Stefan Moster: Neringa oder Die andere Art der Heimkehr

Mare Verlag

Ein 50jähriger Mann in der Midlife crisis. Er kennt, wie auch Charlie Chaplin und Winston Churchill ihn nannten, den Schwarzen Hund, die Schwermut. Dieser namenlose Protagonist im Roman Neringa ist der, der den Lesenden unaufgeregt mit auf seinen nicht immer geraden Weg nimmt. Auf die Suche.

Der erfolgreiche IT-Mann lebt seit langem allein in London, in seiner Wohnung versorgt von der litauischen Putzfrau Neringa.
Er grübelt über sich, sein vermeintlich Sinn entleertes Leben nach; über das, was er einmal hinterlassen wird, über Schwermut und seine Wut, er tut dies wie so viele Autoren in der Mitte des Lebens - aber wunderbarer Weise anders. In Mainz geboren und aufgewachsen, sein Leben spielte sich zwischen Eltern und den väterlichen Großeltern ab, Vater Philipp und Großvater Jakob sind Holz-Pflasterer. So staunen wir darüber, dass weite Bereiche der Mainzer Innenstadt wie die Große Bleiche oder die Anlage vor der Christuskirche mit kleinen Holzblöcken in originellen Mustern gepflastert waren. Jakob und Philipp waren dabei. Aber der Großvater - unendlich ruhig und geduldig - wird manchmal ebenso wie der Enkel von einer unberechenbaren überaus großen Wut gepackt mit schlimmen Folgen. Einmal wäre fast die Großmutter zu Tode gekommen.

Aber all das ist dem Erzähler unendlich fern - bis er in London ins Kino geht und dort blitzartig an diese und andere Geschichten erinnert wird, so an eine Postkarte vom Mont St. Michel - der Großvater war als Soldat dort. In was wird er verwickelt gewesen sein? Dann die Familien-Berichte über die vielen, vielen Stunden auf dem einbeinigen Höckerchen, die Holz-Pflasterei ist mühsam; kaum vorstellbar, wie sich Vater und Sohn über Monate die Große Bleiche entlang arbeiten. Mit dieser Arbeit ist ein weiteres wichtiges Motiv des Romans verbunden, "das Trauma, dass eine "demütige, eigentlich gut gemeinte Arbeit"(1) des Großvaters zur Katastrophe führte ... . Als im zweiten Weltkrieg die Alliierten Mainz bombardierten, brach in genau diesen Straßen ein infernalisches Feuer aus, das viele Todesopfer forderte."

Der Erzähler beschließt, Mainz zu besuchen und den Spuren seiner Familie nachzugehen. Zu der Zeit wird er - als er einmal zufällig seiner Putzhilfe Neringa begegnet - gewahr, dass sich durch sie sein Alltag aufhellt. Neringa (2) ist Litauen entflohen und lebt das Leben wie sie es möchte. Das Aufräumen und Putzen dient nur dem Lebensunterhalt - auf keinen Fall aber einem tieferen Sinn. Wer und was ist sie?

So wechselt der Erzähler immer wieder die Perspektive, wir tauchen in die Mainzer familiäre Recherche ebenso ein, wie in die Stadtarchive. Dann wieder London, die Suche nach Neringa, die ihm zwar aufräumt - aber ohne jegliche Adresse oder Telefonnummer. Skurril mutet die Suche über die litauische Botschaft und die große litauische Community an, die Begegnung mit litauischen Basketballern und dann die große Freude: Neringa beim Figuren - und Schattentheater zu erleben und kennen zu lernen.

Ob die aufgetanen familiären Geschichten zuverlässig sind, ob die Überlieferungen der Wirklichkeit entsprechen, alles scheint nun keine allzu große Bedeutung mehr zu haben. Mit unserem Erzähler - so eine Kritik aus der Schweiz - sehed begrn uneifen wir, dass "mitten in der biografischen Sinnsuche, die der Autor virtuos mit deutschen Schicksalen vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart verknüpft, (fährt) die Begegnung mit einer jungen Frau aus Litauen zu einer ganz neuen Möglichkeit des Glücks im Hier und Jetzt."(3) führt.
Beurteilungen des Romans sind durchweg positiv - er sei leicht und locker, auch tiefsinnig. Ein gutes Buch (...) mit "der Gelassenheit einer einmaligen sprachlichen Schönheit".

EG

1 „Neringa“ – ein Erinnerungsbuch. Stefan Moster auf den Spuren seines Großvaters

2 Wikipedia "neria, nerge, neringia": Land, das auf- und abtaucht wie ein Schwimmer.
Der Legende nach geht der Name auf eine Riesin zurück, die zum Schutz der Küste
einen Wall aus Sand aufgeschüttet hatte. ... die Kurische Nehrung

3 https://www.orellfuessli.ch/autor/stefan+moster-342890/

Lizzie Doron: Der Anfang von etwas Schönem

Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag

Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv und in Berlin. Sie studierte Linguistik. Ihr Roman Ruhige Zeiten wurde mit dem von Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie den Jeanette-Schocken-Preis 2007. In ihren Büchern verbindet sie persönliche mit fiktionaler Geschichte. In dem Doku-Roman Who the Fuck is Kafka (2015) beschreibt sie die Freund-Feindschaft zu einem palästinensischen Journalisten.

Der Anfang von etwas Schönem - verspricht Chesi seiner großen Liebe Malinka. Er will sie unbedingt heiraten und sie ihn auch. Doch er meint noch etwas anderes: In Polen möchte er die jüdische Kultur wieder beleben - zusammen mit Malinka. Sie reisen nach Paris - Malinka im Glauben, dass sie und Chesi dort heiraten werden. Die Sache mit Polen ist nicht ihr Ding. Voller Enttäuschung und Zorn kehrt sie allein zurück nach Israel, wo sie seit 30 Jahren als Amalia Ben Ami in einem Radiosender als Moderatorin beschäftigt ist. Sie fühlt sich von Chesi für seine Zwecke missbraucht. Und da ist noch Gadi, das Hinkebein. Gadi, mit dem niemand außer Malinka spielen wollte und der später in Amerika reich wird. Er träumt seit seiner Kindheit, dass er einmal Amalia heiraten wird. Selbst als er in der Ferne eine Familie gründet, schreibt er ihr noch Liebesbriefe.

Amalia, Chesi und Gadi schildern aus ihrer jeweiligen Perspektive ihre Kindheit, ihre Jugend und als Erwachsene ihre Gefühle und ihre gemeinsamen und getrennten Erlebnisse in einer jüdischen Welt. Dabei springen ihre Gedanken von der Gegenwart in die Vergangenheit, weil alles miteinander verbunden ist.

Der sehr unterhaltsame Roman handelt von Menschen, die in ihre Vorstellung vom Leben geliebte Menschen mit einplanen, die diesen Plänen aber nicht folgen wollen. Er handelt auch davon, dass die junge jüdische Generation auch als Erwachsene der Geschichte ihrer Eltern nicht entkommen kann, wo auch immer sie versucht, ihr eigenes Leben zu leben. Die Sprache ist direkt, manchmal sarkastisch, jiddische Zitate erinnern an die Vergangenheit, mit (jüdischem?) Humor werden die Menschen charakterisiert. Die Handlung ist berührend, aber niemals kitschig, aber auch nicht vorwurfsvoll oder belehrend. Menschen sind Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften, einsam, talentiert, egoistisch, zornig, sehnsüchtig, verantwortungsvoll, mitfühlend, geprägt von ihrer Umgebung und von der Vergangenheit.

Hier eine Leseprobe:

Amalia

"Ab jetzt werde ich Amalia genannt", sagte ich zu Mutter, als in den Ferien aus dem Kibbuz nach Hause kam.
Sarke lachte. "Von mir aus, sollen sie dich dort so nennen", sagte sie. "Für deine Mutter, für Michaela, für mich und noch ein paar wichtige Leute bleibst du Malinka, da kann dich dein Bandit nennen, wie er will."
"Sarke, er ist kein Bandit", sagte Michaela zu meiner Überraschung. "Ich hab ein Foto von ihm gesehen. Er ist der schönste Junge von der Welt."
"Alle Mädchen wollen Boas, aber er liebt nur mich", erklärte ich.
"Weißt du", wandte sich Sarke beruhigend an Mutter, "dieser Boas wird sie nicht heiraten, sie gehört nicht wirklich zu ihnen. Bei uns in Przedborz hat man gesagt: Jeder Topf findet sein Deckelchen, aber sie ist nicht sein Topf."
"Doch, das bin ich", widersprach ich. "Und unser Kibbuz ist tausendmal mehr wert als dein Przedborz."

"Du bist das schönste Mädchen im Laden", sagte der Lebensmittelhändler Gerschtajn, und als er entdeckte, daß ich einen Büstenhalter trug, prophezeite er mir: "Alle Männer in ganz Israel werden dir nachlaufen." Sarke, die am Regal mit den Konserven stand, bemerkte seinen Blick und beschloß, daß man mich nicht mehr allein zum Einkaufen schicken durfte.
Gerschtajn ließ mich auch Jahre später nicht in Ruhe. "Malinka, sag doch mal im Radio was Nettes über Herrn Gerschtajn vom Lebensmittelladen", bat er. "Malinka, stimmt's, daß wir am Ende heiraten?"
Ich ging hinein. Gerschtajn empfing mich mit einem glücklichen Lächeln. In meinen Augen hatte er schon immer ausgesehen wie ein Verwandter seiner Salzheringe, und jetzt, wo er alt wurde, roch er auch nach Hering.
"Haben Sie eine Hefeschnecke mit Zimt und Rosinen?" hörte ich mich zu meiner Überraschung fragen. Ich wußte, daß er schon seit Jahren keine Hefeschnecken mehr führte, doch auf einmal ergriff mich eine seltsame Unruhe, und ich leerte die Regale, belud den Einkaufswagen mit Käse, Joghurt, Würsten, Brötchen, Butterkeksen, Waffeln, Schokolade und Salzstangen.
Wieder nutzte er die Gelegenheit. "Malinka, sag doch mal im Radio was Nettes über Herrn Gerschtajn vom Lebensmittelladen - Und Malinka, stimmt's, daß wir am Ende heiraten?"
Das ist also der Bräutigam, der mir geblieben ist, dachte ich erschüttert.
"Ausgeschlossen", erklärte ich ihm ein für allemal.
Herr Gerschtajn sank in sich zusammen und schwieg.

MS

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

nominiert zum Deutschen Buchpreis 2020
Verlag: Klett-Cotta

Iris Wolff, eine 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, geborene Autorin, hat mit ihrem neuesten Buch Die Unschärfe der Welt einen besonderen Roman aus dem Banat vorgelegt - einer uns nicht mehr ganz so geläufigen Region, einer "historischen Region in Südosteuropa", heute aufgeteilt unter den Staaten Rumänien, Serbien und Ungarn.

"Die Unschärfe der Welt ist ein eminent poetischer Roman, der die ganze Klaviatur der sinnlichen und gedanklichen Erfahrungen ausspielt und gleichzeitig von politischer und historischer Wirklichkeit durchdrungen ist. Nimmt man noch die überaus originelle Erzählweise hinzu, kann man kaum glauben, wie leicht sich das trotzdem alles liest, wie vollkommen dieser kurze Roman ist" (Pascal Mattheus, Literaturkritik)

Ja, es ist ein Roman - leicht, dennoch tiefgründig und absolut lesenswert! Die Autorin versetzt uns in wenigen Kapiteln in eine vier Generationen umfassende Familiengeschichte, als es die DDR und den Ostblock noch gab und dann nicht mehr. In der ausgehenden Winterkälte des Banats wird Samuel als einziger Sohn des jungen Pfarrers Hannes und seiner Frau Florentine geboren. Das Banat war dem Pfarrer wie eine Strafe vorgekommen, "doch einem Ruf widersetzt man sich nicht". Fremd sind sie dort, dennoch führen sie ein ausgefülltes, begegnungsreiches Leben im Pfarrhaus, in dem sich die Sprache angesichts des Völkergemischs oft als unzulänglich erweist. Die Sprache macht es manchmal schwer, sich zu verstehen, Wörter und Erleben passen oft nicht zueinander - Wahrnehmung und Welt gehen auseinander. Wie wird es möglich, zu erkennen, was wichtig ist?

Mitten im Geschehen steht Samuel. In einer unaufdringlichen und bilderreichen Sprache - die Kritik spricht von "einem Zauberkunststück der Imagination", "so schön hat noch niemand Geschichte zum Schweben gebracht" - entsteht sein Leben. "Durch die Augen seiner Mutter, seines Vaters, seiner Großmutter, seiner ersten Liebe, zweier Freunde und seiner Tochter bekommt ihn der Leser in den Blick, präsentiert sich sein Leben gleichzeitig umfassend und fragmentarisch und am Ende steht er einem dennoch ganz klar vor Augen" (Pascal Mattheus s.o.) - daneben natürlich auch die anderen. Was auch geschieht: Die vier Generationen, diese sieben Personen, stehen füreinander ein, gerade auch in der dunklen, harten Zeit des Securitate Regimes mit täglichen Verleumdungen und Verhaftungen. Unberührt davon kommen und gehen die Jahreszeiten mit ihren Eigenheiten und den besonderen Sommern. Der junge Erwachsene Samuel erlebt seine erste und große Liebe, bringt dann aber ohne zu zögern seinen gefährdeten Freund über die Grenze nach Ungarn und folgt ihm nach Deutschland. Nach Jahren mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kehrt Samuel zurück und gründet seine eigene kleine Familie. Von den übrigen Personen finden etliche in Deutschland eine neue Heimat. Für die anderen geht das Leben im Banat weiter, ja es bleibt im Banat nahezu stehen. Samuel aber lebt schließlich mit seiner Frau und zwei Kindern in Deutschland, er ist sich treu geblieben - eine gewinnende und integre Figur in einer Welt, in der ihm nichts mehr fremd zu sein und sich die Differenz zwischen Wort und Welt angenähert zu haben scheint.

EG

Benedict Wells: Fast genial

Diogenes Verlag

Wer im Roman von Benedict Wells große Literatur erwartet, wird enttäuscht, taucht aber in eine leicht lesbare, "unterhaltsame Roadstory" (D. Wunderlich) ein. Drei Jugendliche: Der 17-jährige Francis, dessen einziger Freund, der Nerd Grover Paul und die der Klinik 'entlaufene' Anne May machen sich auf, den biologischen Vater von Francis in Kalifornien aufzutun. Sie tun dies auf der Suche nach einem weniger bedrückenden Leben, nach ihrer Identität, und folgen ihren Träumen.
Francis hochgradig depressive Mutter, mit der er im Trailerpark, einer ärmlichen Wohnwagensiedlung von Claymont in Delaware wohnt, ist in der Klinik. Sie hat ihm nie den leiblichen Vater benannt. Einzig Stiefvater und Halbbruder leben in New York. Nun erfährt er aus dem Abschiedsbrief der Mutter, dass er ein Kind künstlicher Befruchtung ist - aus einer Samenbank für Genies. Sein Vater ein Genie! Welche Hoffnungen erwachen im bislang so glücklosen Jungen? Ein Kind eines solchen Samenspende-Programms birgt im Prinzip alle Chancen - vor allem auch die Aussicht auf Erfolg im Leben. Vielleicht ist dies die Chance, auf die er schon lange gewartet hat?
Ein interessantes, kurzweiliges Buch mit überraschendem Ausgang.

EG

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

Rowohlt Verlag

Viele Schauspieler haben Romane und Autobiografien geschrieben - nun also nach Vollendung seines siebenten Jahrzehnts auch Edgar Selge. Etwaige Skepsis verliert sich beim Eintauchen in seine frühe Lebensgeschichte schnell.
Der etwa 12-jährige Edgar erzählt, er nimmt uns ein und man versteht, man wundert sich und kommt nicht umhin, manches Mal zu staunen.
Mit seiner überaus lesenswerten, familien- und zeitkritischen Autobiografie rund 15 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg blickt er mit uns in seine besondere Kindheit.
Besondere deshalb, weil er - ebenso wie der Autor Joachim Meyerhoff - unmittelbar in und mit einer ungewöhnlichen Institution aufwuchs: Edgar auf dem Gelände einer Jugendvollzugsanstalt und Joachim Meyerhoff auf dem einer psychiatrischen Anstalt. Beide Väter bezogen ihre Familien als Direktoren dieser geschlossenen Einrichtungen oft in deren Alltag ein. Fraglos ein völlig anderes Aufwachsen der Kinder.
Für solch ein Kind ist Gelassenheit im Umgang mit 'schwierigen' Menschen normal, es erwirbt eine andere Sicht auf die Welt und kommt so erzählend daher: Ruhig und oft stauend berichtet es über seinen und den komplexen familiären Alltag, über Schicksalsschläge und Alleinsein, über eigene Verwirrtheiten und das oft kaum verständliche, seltsame Verhalten der Eltern, über allzu häufige väterliche Schläge und weiteres übergriffiges Tun des Vaters - dessen eine Seite. Auf der anderen war der Vater ein äußerst musikalischer, energiegeladener Mann, ein begabter Pianist, der seinen Söhnen die Liebe zur Musik vermittelte, gemeinsam mit der jedoch nur musikliebenden - wie Edgar unterscheidet - Mutter.
Fünf hochmusikalische Jungen, die neben Schule und Musik natürlich das Abenteuer suchen. Einer der drei älteren Brüder verunglückt in der Nachkriegszeit und sein Tod trifft alle furchtbar, zerstört fast die Mutter. Wie und wo bewältigt der zweitjüngste Sohn Edgar all dieses?
"Der Sohn übersteht vernichtende Erfahrungen wie diese mit bemerkenswerter Resilienz. Eine tragende Rolle spielt dabei das Erleben von Schönheit - in der Musik oder an einem Menschen. Hier verdichtet sich die ganze Vieldeutigkeit des Lebens, in dem das Schöne einen dazu bringt, auszuhalten, was nicht auszuhalten ist." (Julia Schröder, Deutschlandfunk)
Alles in allem geht es dem Autor um das immerwährende Lebensthema: Dem Erringen der elterlichen Liebe. Um die Liebe des ihn so oft strafenden Vaters geht es, um die Nöhe zur Mutter - um Verzeihen und Loslassen. Träume mögen dabei helfen. "'Hast du uns endlich gefunden', sagt die Mutter zum träumenden Erzähler, doch ihre Freundlichkeit reicht nicht bis zu ihm, und sie verschwindet." (Schröder)
Menschsein bleibt Herausforderung - nicht nur für Edgar Selge.

EG

Helga Schubert: Vom Aufstehen

Verlag: dtv

Die 1940 geborene Helga Schubert, verheiratete Helm, ist Psychologin und Psychotherapeutin, Autorin und Biografin ihres Lebens - einer Geschichte über Flucht und DDR bis hin zur Wendezeit und dem Heute.
"Vom Aufstehen" ist und meint alles: Erinnern und Sortieren, Liebeserklärung und Versöhnung mit dem Vergangenen und letztlich mit dem Alter. Lebensnah, aber nicht zu nah schildert die Autorin unglaublich einfühlsam in losen Kapiteln ihre Kindheit, das Heranwachsen in der Zerrissenheit zwischen Mutter und Schwiegermutter, die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung samt familiärer Verflechtungen und ihr älterwerden, Erfolge und das Altsein.
Ein Leben, das von den Geschehnissen und Bröchen des 20. Jahrhunderts geprägt und mit der alleinerziehenden ehrgeizigen Mutter durchzustehen war. Über allem lag die Trauer um den Vater, der - kaum Jurist - im Krieg fallen musste. Dieser Mutter könnte Schubert das Buch gewidmet haben, denn sie ist nahezu die zentrale Figur. Sie lässt die erwachsene Tochter nicht los, während Letztere um Freisein ringt, um mütterliche Liebe und Anerkennung wirbt.
Im besten Sinne Viktor Frankls galt und gilt für die Autorin immer wieder, "Trotzdem Ja zum Leben sagen" - eben immer wieder aufstehen.
So verfügt sie trotz Überwachung im DDR-Staat über ein unerschütterliches Vertrauen in das Leben und in ihre Mitmenschen - damit über die Kraft zum Weitermachen. Nur so ist letztlich die Aussöhnung mit dem Verlust des Vaters und der Versuch einer Versöhnung mit der herben egozentrischen Mutter möglich.
Rückblickend mag die Tochter Kränkungen und traumatische Erfahrungen aufgrund ihrer sicheren Bindung zur väterlichen Großmutter überstanden haben. Diese jahrelangen engen Kontakte verhalfen ihr dazu, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu bewältigen. Die geliebte Großmutter - ihr wunderbarer, bleibender Ruhepol, ein Fluchtpunkt, den jeder Mensch sich wünscht und braucht, um Herausforderungen aus eigener Kraft bewältigen zu können.
Aber eines blieb: Das Ringen um mütterliche Anerkennung und Liebe. Was kann die Autorin von ihrer Mutter erwarten? Einer Mutter, die am Ende ihres wahrhaft langen 100-jährigen Lebens ihre Zuneigung für die Tochter auf merkwürdige Weise bekundet: "Ich habe drei Heldentaten vollbracht, die dich betrafen. Erstens: ich habe dich nicht abgetrieben, obwohl dein Vater das wollte. Und für mich kamst du eigentlich auch unerwünscht ... Zweitens: Ich habe dich bei der Flucht aus Hinterpommern bis zur Erschöpfung in einem dreirädrigen Kinderwagen im Treck bis Greifswald geschoben und drittens: Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen, als die Russen in Greifswald einmarschierten ..." (S. 216 f.)
Helga Schubert kann verzeihen und loslassen, sie endet mit den Worten: "Alles gut."

EG

Bernhard Schlink: Olga

Diogenes Verlag

Der Jurist Bernhard Schlink ist als Schriftsteller nicht alltäglicher Kriminalromane bekannt und dann durch besondere, aktuelle Themen aufgreifende Nichtkriminalromane. Manchmal scheint die Grenze fließend zu sein. Im Jahr 1944 geboren, schrieb er neben seiner Berufstätigkeit, nach seiner Motivation befragt, antwortete Schlink in einem Interview: "Ich schreibe aus demselben Grund, aus dem man auch liest: Man will nicht nur ein Leben leben." So sieht sich jeder Leser, jede Leserin immer wieder auf ganz eigene Weise in Fragen zu Schuld, Recht und Gerechtigkeit einbezogen - auch in die kritische Auseinandersetzung mit dem Verlauf des Zeitgeschehens.
Olga - schon Name und zugleich Titel des Romans lassen Vergangenes ahnen. Olga, im Kaiserreich geboren, wird eine selbstbewusste, zielstrebige Frau, deren Leben im 20. Jahrhundert von zwei Weltkriegen bestimmt wurde. Von klein auf ist ihr Herbert am wichtigsten - eine erfüllte und zugleich unerfüllt gebliebene Liebe. Eine Frau, die als Lehrerin die Welt kritisch beobachtet, aber nie verzagt. "Eine Frau, die kämpft und sich findet, ein Mann, der träumt und sich verliert. Leben zwischen Wirklichkeit, Sehnsucht und Aufbegehren. Vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert ..." (Diogenes), bestimmt die Weltgeschichte in Afrika oder in der Arktis Olgas Leben. In berührender, fesselnder und in kritisch nachdenklich stimmender Weise setzt der Autor den Lehrerinnen, die bis in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts ledig bleiben mussten, und anderen hart kämpfenden Frauen wie etwa den Nähfrauen ein Denkmal.
Ein überaus lesenswertes Buch über eine ungewöhnliche, sanfte Liebesgeschichte.

EG

Tonio Schachinger: Nicht wie ihr

Verlag: Kremayr & Scheriau

Böse Zungen mögen behaupten, das Thema Fußball sei literarisch wenig ergiebig. Dem soll hier nicht widersprochen werden, zumal der Rezensent ausdrücklich kein Fußballliebhaber ist. Wohl aber ist festzuhalten, dass dieser Sport für mindestens einen guten Roman taugt. Der Titel dieses Romans lautet "Nicht wie ihr".
Der junge österreichische Autor Tonio Schachinger präsentiert mit dem Profifußballer Ivo Trifunović einen einfach gestrickten Protagonisten in einer Sprache, die, wenn sie Ivos Perspektive einnimmt, vom ersten Satz an ebenso einfach daherkommt: "Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt."
Doch soll sich niemand täuschen und Protagonist oder gar Autor unterschätzen. Ivo ist einfach, aber er ist echt. Und Schachinger versteht es geschickt, nicht nur die inhaltlichen, sondern auch die sprachlichen Ebenen abzumischen. In den gelungensten Passagen geschieht dies in ein und demselben Satz, etwa wenn es heißt: "'Du Hurenkind', sagt Ivo, und die Entspannung fällt von ihm ab, 'du dummes, dummes Hurenkind'."
Der Roman fokussiert über weite Strecken auf Ivos Verhältnis zu seiner Ehefrau Jessy und auf die Herausforderung, die es für dieses Verhältnis bedeutet, wenn Ivo nach Jahren wieder auf seine Jugendfreundin Mirna trifft. Auch dabei gelingt es Schachinger, komplexe Inhalte in einfache, aber bestechende Sprache zu fassen: "[...] Jessy holt ihn vom Flughafen ab und umarmt ihn. Sekundenlang stehen sie so da, in der Tiefgarage, und er merkt, wie wohl ihm das tut, wie er sich verändert hat, wie weit weg er war und wie nahe Jessy und er einander davor waren. Und in dem Moment, in dem er die Nähe spürt, die er vergessen hatte, vergisst er die Distanz."
So nimmt die Geschichte ihren Lauf, und obwohl sie in einer Welt des Luxus und des Jetsets spielt, berührt sie den Leser nicht nur, sondern zwingt ihn nicht selten zu einem herzlich-mitfühlenden Lachen.
Wer sich im Vergleich mit einem jungen, emporgekommenen Profifußballer für etwas Besseres halten mag, der wird durch diesen Roman auf subtile Weise eines Besseren belehrt. Und wer auch nur ein einziges Buch zum Thema Fußball lesen möchte, dem sei "Nicht wie ihr" von Tonio Schachinger empfohlen. Der knapp über 300 Seiten lange Roman ist Schachingers Erstlingswerk und stand im Jahr 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

IK

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse

Hanser Literaturverlage

Der Roman von Delia Owens, aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. "Ein schmerzlich schönes Debüt, das eine Kriminalgeschichte mit der Erzählung eines Erwachsenwerdens verbindet und die Natur feiert.", so die New York Times und nach Denis Scheck "Ein Schmöker, aber einer mit literarischen DNA. Ein Debüt, das durch unvergessliche Naturschilderungen besticht." (Tagesspiegel, 15.09.19).
"Der Gesang der Flusskrebse" - ein ungewöhnlicher Titel, der aber nahelegt, dass der Roman am Fluss, einem Marschland spielt - in Wald und Wasser, Wildnis und Natur. Dort in Nordamerika leben entwurzelte Familien, die fernab jeglicher Kultur und Zivilisation ihr Dasein fristen. Es geht um das Kind, später die Jugendliche und dann junge Frau Kya Clark, die als Autodidaktin zu einer Spezialistin der Flora und Fauna des Marschlands wird und Anerkennung erlangt - nur unterstützt durch einen Jugendfreund aus der ihr nicht zugänglichen Welt. Allerdings ist die Wertschätzung keine ungeteilte, denn das Marschmädchen ist vielen ob seiner Lebensweise - seit Kindheitstagen völlig allein in der Wildnis lebend - suspekt. Als dann ein junger Mann aus dem nahe gelegenen Ort Barkley Cove ermordet aufgefunden wird, ist für die Einwohner klar: Es kann nur das mittlerweile erwachsene Marschmädchen gewesen sein.
Einssein mit der Natur, Erfolg und Misserfolg, Liebe, Misstrauen und Hass erlebt der Lesende mit der Protagonistin. Sie sucht ihren Weg und verblüfft mit dem Wie ihre Leser und Leserinnen. Ein spannender, unterhaltsamer, leicht lesbarer Roman, der uns zeigt, wie nachhaltig uns die Kindheitsmuster prägen. Er zeigt vor allem auch, dass es immer hilfsbereiter, mitfühlender Menschen bedarf, die wie hier die heranwachsende Kya unterstützen und damit Raum für ihr Aufwachsen und die entstehende Liebe zwischen Kya Clark und ihrem Jugendfreud schaffen.
Die Not der Marschleute, deren Verlassenheit, deren Lebensunfähigkeit und deren aus Not geborene Verantwortungslosigkeit den eigenen Kindern gegenüber, aber ebenso deren überlebenswille kontrastieren mit der Einzigartigkeit des Marschlands: Der Vielfalt der Flusstiere und der Muscheln, der Pflanzen und etwa der Vögel.
Ich schließe mich den oben genannten Kritiken an und ende mit der Empfehlung von Elke Heidenreich: "Ein ganz wundervolles Buch, eines der schönsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Ein einzigartiges Buch." (Elke Heidenreich, WDR 4, 30.09.19)

EG

Alexander Oetker: Rue de Paradis

Verlag: Hoffmann und Campe

Alexander Oetker, Kenner und Liebhaber Frankreichs, hat etliche unterhaltsame, im französischen Milieu spielende Krimis publiziert. Unter dem Pseudonym Alex Lépic lässt er etwa den einen Kommissar Lacroix kurzweilig in Paris ermitteln. Dagegen vertraut Alexander Oetker seinem anderen Kommissar Luc Verlain in einer großen, flutbedingten Katastrophe an der Westküste Frankreichs.
Entlang der Rue de Paradis eines kleinen Ortes auf der wahrlich paradiesischen Halbinsel Cap Ferret besitzt eine kleine Gemeinschaft Hüuser. Ebenso steht dort die Villa des Bürgermeisters - an der Spitze des Caps. Regelmäßige Sturmwarnungen werden in der Rue de Paradis zwar - wenn auch mit zwiespältigen Gefühlen - beachtet, aber nicht als besorgniserregend eingestuft.
Aber an einem 12. März spätabends geschieht es: Ein gewaltiger Sturm rollt auf das Cap Ferret zu, Paris erlässt Sturmwarnungen bis hin zur Räumungsaufforderung des Küstenstreifens. Es geschieht nichts.
Und so bricht über die Menschen in der Rue de Paradis eine Flutwelle herein, die die kleine Straße unter sich begräbt - bis auf das am Ende der Straße höher gelegene Haus des Bürgermeisters. Eine Düne hat nicht standgehalten. Nun ist nicht nur der Tod einer Bewohnerin zu beklagen, sondern fast vielmehr, dass alle Bewohner dieser Straße auf höchste Weisung umgesiedelt werden. Wut und Streit sind entbrannt, denn der Bürgermeister kann bleiben, obwohl jeglicher Hausbau an der Küste gesetzwidrig war und ist.
Diese aufgeheizte Stimmung soll, wenige Monate später - aus Bordeaux kommend, der junge Kommissar und werdende Vater Luc Verlain schlichten, die Bewohner der Straße zur Umsiedlung motivieren. Aber für alle völlig überraschend überrollt eine zweite, riesige Flutwelle die Rue de Paradis und zerstört das letzte Haus, die Villa des Bürgermeisters. Er selbst treibt tot im Wasser.
In dieser Katastrophe ist auf Hilfe oder Verstärkung von außen nicht zu hoffen.
Der Kommissar muss der Todesursache nachspüren und gegebenenfalls auch einen Mord aufklären. Allein? Nein - der Leser oder die Leserin begleiten ihn natürlich bei der allmählichen Aufklärung des Geschehens, klar ist schnell: Der Bürgermeister wurde erschlagen. Die Leser durchleben, wie die wenigen infrage kommenden Täter nach und nach ihre Geheimnisse preisgeben. Immer wieder stellt sich die Frage: Who has done it? - also ein klassischer sogenannter Whodunit-Krimi? Alles ist miteinander verwoben, keiner ist vermeintlich ohne Schuld. Hier schnell zu schlussfolgern, wie der unsympathische, unbedarfte Vorgesetzte des Kommissars es tut, hilft da nicht.
Bald gelingt es dem jungen Kommissar, den Mord für den Lesenden nicht nur schrittweise aufzuhellen. Sondern er klärt zudem die Identität und das Motiv des Mörders und - zu guter Letzt - ergibt sich eine akzeptable Lösung für die obdachlosen Menschen.
Gerade noch rechtzeitig zur Geburt seines Kindes schafft es Luc Verlain, wieder in Bordeaux zu sein.
"Rue des Paradis" - ein kleiner, gelungener, leicht lesbarer Krimi, ein Lesevergnügen für wenig Zeit, kurzweilig und anregend - zudem vor aktuellem Hintergrund.

EG

Ian McEwan: Abbitte

Diogenes Verlag

Kürzlich stieß ich auf eine Zusammenstellung lesenswerter Bücher, der besten Romane des 21. Jahrhunderts - Ian McEwans 'Abbitte' war darunter. Der Roman erschien bereits 2002 im Diogenes-Verlag, ein überaus lesenswertes Buch.
Der bekannte britischer Autor Ian McEwan blättert die Zeitgeschichte beginnend im Jahr 1935 im beschaulichen sommerlichen England auf, thematisiert das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verschiedener Gesellschaftsschichten, die Not der Heranwachsenden, wenn sich die Eltern entziehen. Am Beispiel der 13-jährigen Briony Tallis erlebt der Lesende, wie sie auf unfassbare, tragische Weise das Leben der ihr liebsten Menschen auf kindlich-trotzige Art nahezu zerstört. Ein übriges erledigt der Zweite Weltkrieg ...
Der Roman beginnt mit einem familiären Paradies, das Leben fließt zehn Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg dahin, jeder auf dem für ihn in der Gesellschaft vorgesehenen Platz. Die einsetzende Pubertät versetzt Briony in Verwirrung, verunsichert sie maßlos und lässt sie gar an dem verzweifeln, was sie an sich liebenden jungen Erwachsenen wahrnimmt. Alleingelassen, gefangen in ihrer kleinen, naiven Welt erleben wir sie als unerbittlich, jede und jeder verdient für sein Tun eine gerechte Strafe. Auch ihr Jahre später unternommene Versuch um Versöhnung erlöst die Beteiligten nicht; versöhnt aber den Lesenden, weil er die tiefe Reue der Protagonistin erkennt und darüber hinaus begreift, dass niemals etwas zurückgenommen werden kann.
Der Roman 'Abbitte' ist Teil der Weltliteratur - so befindet etwa die bekannte Schriftstellerin Ursula März. "... Der Autor, ohne Zweifel für die Rezensentin ein Meister der hohen, aber abgründigen Erzählkunst, hat sich hier sogar noch übertroffen. 'Abbitte', in dem es um die fatale und gleich mehrere Biografien zerstörende Lüge einer 13-Jährigen geht, hält März für "das literarisch interessanteste" und "komplexeste", was McEwan bisher geschrieben hat. Einiges an diesem Roman erinnere an Emily Brontes "Sturmhöhe", und mit Sicherheit wird auch das Liebespaar Robbie und Cecilia, das die 13-jährige Briony mit ihrer Lüge ein Leben lang zu trennen weiß, Eingang in den "Olymp der großen Liebesgeschichten der Literatur" finden, ist die Rezensentin überzeugt. McEwan ist mit diesem Roman 'strahlend' in der Weltliteratur angekommen, verkündet März ... (Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.10.2002, im Internet aufgerufen am 14.12.2021)
Ja - ein kleines Juwel.

EG

Alex Lépic: Lacroix und die stille Nacht von Montmartre

Kampa Verlag

Alex Lépic hat einen leicht lesbaren, ungewöhnlichen Krimi vorgelegt - aus dem Herzen von Paris im weihnachtlichen Schnee. Unter Alex Lépic verbirgt sich der deutsche Autor Alexander Oetker. 1982 in Ost-Berlin geboren, lässt er - aufgrund seiner Nähe und Liebe zu Frankreich, seiner vielen dortigen Aufenthalte - Kommissar Lacroix in Paris ermitteln.
In seinem Band "Lacroix und die stille Nacht von Montmartre" wird das weihnachtliche Paris lebendig. Lacroix, Kommissar eines unteren Pariser Bezirks, wundert sich über den überaus ungewöhnlichen Schneefall zu Weihnachten, wundert sich bei der morgendlichen Zeitungslektüre noch mehr über eine Notiz zum Diebstahl der vollständigen Weihnachtsbeleuchtung auf dem Place du Tertre, dem Herzstück Montmartres. Lacroix liest wieder, wägt ab und beschließt ahnungsvoll, den Tatort aufzusuchen. In dichtem Schneefall steigt er auf den Montmartre hinauf - siehe da, die absolut komplette Weihnachtsbeleuchtung ist gestohlen - möglicherweise nichts Besonderes, aber für Lacroix scheint mehr dahinter zu stecken. Allerdings ist der Montmartre der Bezirk seiner Kollegin Rose Violet. Aber als am nächsten Morgen auch noch der riesige Weihnachtsbaum von Sacré-Coeur fachmännisch gefällt am Boden liegt, möchte Lacroix gern ermitteln und bietet der über die Störung der weihnachtlichen Ruhe wenig erfreuten Kollegin seine Hilfe an. Beide Kommissare beginnen auszuloten, tippen auf Weihnachtsgegner und tappen zunächst im Dunkeln. Dann geschieht ein Mord, der die Ermittler schließlich auf die richtige Spur bringt. Aber ist die Lösung dieses Weihnachtsfalls ohne Begegnung mit Madame Lacroix, Bürgermeisterin eines Arrondissements, ohne die besondere Atmosphäre des strahlend weihnachtlichen Paris und ohne den Bruder von Kommissar Lacroix, einem Geistlichen in der Kirche Sainte-Clotilde, möglich?
Ein kurzweiliges Lesevergnügen mit viel Pariser Charme in der stillen Nacht von Montmartre.

EG

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann

DuMont Buchverlag

Dieser Roman von M. Leky ist gleichsam ein sympathischer, einfühlsamer Gast eines Nachmittags. Ein gelungener Nachmittag, denn es ist ein irgendwie aufmunterndes, liebenswertes Buch, eines, das eventuell trösten kann - denn: Alles wird gut!
Leicht und locker kommt der Text daher, skurril und manchmal geradezu naiv - so scheinen die Westerwälder zu sein. Leky schildert die 80-jährige Westerwälderin Selma, deren besonderen, ja einzigartigen Status in der überschaubaren Dorfgemeinschaft. Träumt sie von einem Okapi, dann stirbt am folgenden Tag einer aus dem Dorf. Aber wer? Die nächsten 24 Stunden sind für die Dörfler schier unerträglich.
Es geht um Liebe und Vertrauen, um Unerfülltes und Trauriges, um Banales und Bodenständiges. Wir erleben das Aufwachsen der Erzählerin Luise und Enkelin der Selma. Wir teilen das wenige Wissen über deren unorthodoxen Vater, deren aushäusige Mutter, über den quasi allwissenden Optiker, der seine unerfüllte Liebe zu Selma vor sich herträgt - und so weiter und so weiter.
Das dörfliche Leben ist so weit weg von der Realität, dass wir uns der Neugierde der Bewohner überlassen mit deren teilweise etwas ungelenker Sprache, über deren Aberglauben schmunzeln und Skurriles miterleben. Welch eine Welt, in der jeder jedem hilft, sich kümmert und auf eine ganz spezielle Art seinen Frieden findet - immer tröstend dabei der große, graue Hund Alaska, der viele, viele Hundeleben zu haben scheint.
Der Rezensent Jörg Magenau dürfte es in der Süddeutschen Zeitung vom 23. Juli 2017 auf den Punkt bringen: "Die Freude am Repetitiven und am Erwartbaren, das dann aber doch im letzten Moment in eine Überraschung umschlägt, hat [...] eher kindliche Qualitäten. Die sinnspruch-haften Weisheiten, die nebenbei produziert werden und für die vor allem der Optiker zuständig ist, klingen ein wenig wie aus dem Poesiealbum. Das alles spricht aber keineswegs gegen diesen sorgfältig konstruierten Roman, denn - und das ist ja das Schöne an Kinderbuchlandschaften - es ist eine ganz und gar unspießige Gegenwelt, in der die Menschen einander helfend zur Seite stehen und sich in ihren Eigenarten und Skurrilitäten gelten lassen."

EG

Martin Kordić: Jahre mit Martha

S. Fischer Verlage

Martin Kordić, in Deutschland geboren und ein Kenner der sozialen Integration und deren Hindernisse, nimmt den Lesenden gefangen.
Mit diesem Buch hat er einen Roman vorgelegt, der überaus positiv beurteilt wird - mit welch unterschiedlichen Bezeichnungen: Brutale Abrechnung mit der Gesellschaft, elegant, empathisch, Zärtlichkeit, gesellschaftskritisch, coming-of-age, sexuell, Ausbeutung und Begehren, Brillanz, herrliche Sprache.
Was ist das Besondere an "Jahre mit Martha" - an dem in Deutschland geborenen Jungen Željko Draženko Kovačević, der nicht immer über seine kroatische Herkunft stolpern möchte und sich Jimmy nennen lässt? Um ihn, der aus äußerst einfachen Ludwigshafener Verhältnissen kommt, geht es in den späten 90er-Jahren, im Sommer seines Erwachsenwerdens. Seine Eltern sind Zuwanderer aus Kroatien, der Vater unter anderem Hausmeister einer kleinen Kirchengemeinde in Ludwigshafen, die Mutter putzt dort und auch bei Martha Gruber.
Eine irgendwie leise Sexualität durchzieht nicht nur diesen Roman, der Autor beginnt ihn auch damit - eine erste für Martha überaus peinliche Begegnung mit Jimmy bei ihrem Toilettenbesuch.
Die wesentlich ältere Heidelberger Professorin Martha Gruber eröffnet dem 15-jährigen Jungen in jeder Hinsicht die Welt, sie verkörpert das von ihm Ersehnte: Bücher, Bildung und Souveränität. Vorsichtig nehmen die beiden eine intensive, später auch sexuelle Beziehung auf. Martha unterstützt Jimmy in jeder Hinsicht, als Studenten weiterhin finanziell, sie wird und bleibt seine große Liebe.
Im Studium gerät der junge Mann bald in einen sonderbaren Kontakt zu dem an seiner Universitätsfakultät lehrenden Literaturprofessor Alex Donelli - durch diesen wird er zwar irgendwie gefördert, zugleich aber in unlauterer Weise ausgenutzt. Als Jimmy diesen Professor schließlich ein einziges Mal bitten muss, sich für ihn einzusetzen, lässt er ihn, möglicherweise auch infolge erneuter intensiver Begegnungen mit Martha, kommentarlos fallen.
Das Besondere an "Jahre mit Martha" mag darin liegen, quasi mit Jimmy Željko dessen Erwachsenwerden mitzuerleben, denn der Autor lässt ihn erzählen: über ein "Kind von Eltern, die irgendwann einmal hierherkamen und sich an nichts festhielten als an ihren Körpern und an ihren Träumen"; darüber, dass Željko sich selbst seine Geschichte erzählen will, weil er "die Irrwege [seines] jungen Erwachsenenlebens in eine Dramaturgie sortieren will, die auf ein versöhnliches Ende zusteuern soll" (S. 15).
So schafft Željko es, sich endlich ein ihn zufriedenstellendes Leben aufzubauen. Jahre nach seinem Studienabschluss lässt er sich zum Gärtner ausbilden. Hatte man ihm nicht schon früher als vermeintlichem Ausländer geraten, Gärtner zu werden? Als solcher kann er - so ergibt es sich - seine große Liebe auf dem letzten Weg begleiten.
Ein lesenswertes Buch!

EG

Colleen Hoover: Finding Perfect

Verlag: dtv

In der Reihe New Adult, Young Adult ist der kleine, 110 Seiten starke Roman erschienen. Colleen Hoover ist eine 1979 in Texas geborene US-Amerikanerin, Bestsellerautorin und zählt zu den nachgefragtesten Autoren der USA und vermutlich nicht nur dort. Mit ihrem Abschluss in Social Work dürfte ihr das Thema dieses Romans am Herzen liegen, denn als Sozialarbeiterin kennt sie vermutlich Höhen und Tiefen ungewollter Schwangerschaft und das weite, überaus schwierige Feld der Adoption eines Kindes. Und darum geht es hier.
Zwei einander unbekannte noch nicht Zwanzigjährige feiern, haben Sex auf einer Party in Texas und gehen auseinander. Bald danach absolviert die Jugendliche Six einen langen Italienaufenthalt und lernt dann, gut ein Jahr später, Daniel kennen und lieben. Beide stellen überrascht fest, sie trafen sich bereits - und es hatte für Six ungeahnte Folgen, denen Daniel zunächst sprachlos gegenübersteht.
Die Autorin thematisiert einfühlsam die zwiespältigen Gefühle der jungen Leute: Plötzlich Eltern sein, jung zu sein, solch ein Geheimnis und dazu die Abgabe des Kindes an italienische Adoptiveltern verkraften zu messen, um dann, völlig überraschend für beide, eine intensive Sehnsucht nach ihrem kleinen, perfekten, jedoch unerreichbaren Sohn zu verspüren - Finding Perfect.
Daniel ist besonders ratlos und frustriert, was heißt unerreichbar? Hier bedeutet es inkognito - Kontaktsperre, weil Six in Italien in eine Inkognito-Adoption ihres Kindes einwilligte. Denn wie nur soll sich eine junge Mutter, völlig allein, entscheiden? Für das Kind oder es weggeben? Wenn Letzteres - will sie die künftigen Adoptiveltern kennenlernen oder soll alles inkognito bleiben? Wie auch das Adoptionsverfahren abgelaufen sein mag, es wird im Dunkeln gelassen, immerhin erfuhr die junge Six Hilfe.
Spürbar ist das Anliegen der Autorin, einen ganz besonderen Schwerpunkt zu setzen. Sie möchte junge Menschen für die emotionale Seite eines überaus komplizierten Adoptionsverfahrens sensibilisieren und gibt daher Antworten, die sicher nicht dem wahren Leben und dem Rechtsweg entsprechen. Aber dennoch weist sie Jugendlichen einen Weg, der für sie und dem Wohl ihres Kindes hilfreich sein könnte.
Denn, wenn die Beteiligten im Falle eines Adoptionsverfahrens für sich und für das Kind eine gute Lösung erreichen möchten, könnte es möglicherweise bedeuten, eine für alle offene Adoption anzustreben.

EG

Norbert Gstrein: Der zweite Jakob

Hanser Verlag

Dieses Buch des 1961 geborenen österreichischen Autors war preisverdächtig, es stand nicht nur auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021, sondern fand auch in der Kritik überwiegendes Lob, ein spannendes, 'atemberaubendes' Buch.
Carsten Otte, SWR 2, befindet: "Der zweite Jakob" von Norbert Gstrein sei "ein mitreißender Roman über den verzweifelten Versuch, sich der eigenen Herkunft und einer beschämenden Biografie zu entledigen".
Man ahnt es schon: Jeder Lesende muss sich auf den Ich-Erzähler einlassen - eine anstrengende Einlassung. Wer sich also etwas fordern mag, mag dem irgendwie skurrilen Leben der Innsbrucker Hauptfigur Jakob Thurner folgen. Er, nun nahezu 60 Jahre alt und eher zufällig Schauspieler geworden, überzeugt besonders in der Rolle eines Mörders. So wird er zunehmend auch in internationalen Film-Settings gebucht, denn - er entpuppt sich als der Spezialist in der Rolle eines Frauenmörders. Nicht nur das: Er veruntreut geerbtes Geld, das seine Großmutter ausdrücklich für seinen bedürftigen Onkel Jakob (den Ersten) gedacht hatte, und lebt auf großem Fuße. Von beidem weiß seine Tochter Luzie nichts.
Dieser ungewöhnliche allein lebende Typ möchte nun wie immer seinem Geburtstag entfliehen und lädt seine erwachsene Tochter ein. Aber Letztere entzieht sich. Überdies plant seine steirische Heimat eine Feier anlässlich seines 60. Geburtstags und ein Verlag möchte seine Biografie herausgeben. Ein bisschen viel auf einmal - der Jubilar fühlt sich bedrängt. Immer neue Fragen der Tochter und das Insistieren des Biografen werfen den Ich-Erzähler fast aus der Bahn. Unaufhaltsam muss er sich dem, was er getan oder vielmehr unterlassen hat, stellen. Fragen zu einer Lebensschuld lassen ihn nicht los, vor allem die Frage der Tochter "Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?". So befördern ihre vielen Fragen, ihre ständige Anwesenheit bei den biografischen Interviews die dramatische Entwicklung der Handlung. Er sieht sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert und damit mit Dreharbeiten an der Grenze der USA zu Mexiko in den achtziger Jahren, mit der Not der Bevölkerung und der Not am Filmset. Infolge von Eifersucht und Querelen wird der Protagonist unter anderem in einen schrecklichen Unfall verstrickt - Über den aber nie gesprochen wurde. Was aber erfährt der Biograf? Wie geht es weiter im Leben des zweiten Jakobs?
Leserin und Leser dürfen gespannt sein. Der Autor N. Gstrein stellt sich immer wieder die Frage, "ob man die Schuld, die einer im Laufe seines Lebens auf sich lädt, durch das Erzählen einholen kann". Auf alle Fälle deutet sich an, dass der damit eingeschlagene Weg der richtige sein könnte.
So gelingt es Vater und Tochter, mit der Rückkehr in das väterliche Heimatdorf zueinander zu finden. Die Tochter stellt sich dem Erwachsenensein und der Vater kann sich mit seinem (früheren) Leben versöhnen - nicht zuletzt mit seinem alten Onkel: dem ersten Jakob.

EG

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie

Verlag: Piper

Im Alter von 60 Jahren hat die Autorin diesen, ihren ersten, Roman veröffentlicht. Welch ein Buchtitel, wird er Fragen aufwerfen? Sicherlich - denn der Roman spielt in der Mitte des 20. Jahrhunderts, es geht um das Frau-Sein, um eigene informierte Entscheidungen, um ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben, um Frauenkarrieren in den 1950er/1960er-Jahren, um ein bestimmtes - wenn auch reduziertes - Männerbild und massive Gesellschaftskritik.
Dieses Buch über Elisabeth Zott ist ein besonderer Gast im Lesealltag: Uns begegnen eine junge Frau, ein junger Mann, ein erfolgloser, alleinerziehender TV-Produzent und deren kleine miteinander befreundete Töchter. Irgendwie charmant, oft witzig, ironisch vermittelt die Autorin einen leicht durchschaubaren Plot (für manche Kritiker kitschig), aber der Roman trifft schmerzhaft die wunden Punkte jener Zeit - zwischen Männern und Frauen - auch wenn die Autorin sie überzeichnen mag. Aber so war es und zum Teil kann es heute noch so sein, man denke an die #MeToo-Debatte.
Die Protagonistin Elisabeth ist eine kluge, couragierte, diplomierte Chemikerin und Wissenschaftlerin in den USA. Man spürt beim Lesen förmlich die unsichtbare sexistische Glasdecke, an die sie im Arbeitsalltag ständig gestoßen wird ebenso wie die permanente sexuelle Belästigung, Gewalt.
Für Elisabeth bleibt das Nicht-ernst-genommen-werden, das anzügliche Hinterfragen ihres Werdegangs, zumal sie nach dem plötzlichen frühen Tod ihres Lebensgefährten auch noch eine ledige Mutter wird, eine Qual. Denn einer wie ihr darf man Forschungsergebnisse stehlen, ihr unterstellen, dass sie lediglich durch und von ihrem renommierten Partner profitierte - ja, sie kämpft permanent gegen die gesellschaftlich akzeptierte Auffassung, nur die bessere Hälfte in einer Beziehung (gewesen) zu sein.
Die solcherart gedemütigte Protagonistin durchlebt mit ihrer intelligenten kleinen Tochter gruselige Zeiten im Forschungsinstitut, die sie nicht länger akzeptieren kann. Sie kündigt und nimmt eine nachmittägliche Kochsendung im Fernsehen an. Ein glücklicher Neustart des glücklosen TV-Produzenten um Einschaltquoten. Gesundes Kochen ist in der Tat eine Frage der Chemie. Klug, niveauvoll, couragiert, distanziert und auf eine Weise weltfremd - so lieben sie schnell die Zuschauer und Zuschauerinnen bis hin zum US-Präsidenten. Sie referiert dabei im wahrsten Sinne des Wortes über weibliche Berufschancen, gesundheitliche Aspekte oder übt dabei Gesellschaftskritik.
Es ist ein lesenswertes, unterhaltendes Buch - wirklich ein besonderer Gast im Lesealltag. Zumal sich zu guter Letzt für Mutter und Tochter völlig neue Wege eröffnen, denn der Roman endet "Mit einem heitern, einem nassen Aug'".

EG

Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen

Verlag: dtv

Wer sich Jostein Gaarder zuwendet, erfährt, dass Lesen bereichern und glücklich machen kann. Der Osloer Autor lehrte unter anderem Philosophie an Schulen. Er fasziniert durch seine besondere Sicht auf uns Menschen und die Welt - versteht es, junge und ältere Menschen anzusprechen.
'Das Organgenmädchen' ist keine Neuerscheinung, hat aber seit seinem Erscheinungsjahr 2003 nichts von seiner einnehmenden, anziehenden Art verloren. Diese Liebesgeschichte, die jedes Lesealter anspricht, wurde im Juli 2004 zum Jugendbuch des Monats, im November 2004 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Es geht um den 15-jährigen Georg, um seine Familie, seine Mutter, die kleine Schwester, den Stiefvater und die Großeltern. Georg ist eindeutig die Hauptperson, aber sein vor mehr als elf Jahren verstorbener Vater ist es auch. Beider Leben verschränkt Jostein Gaarder auf unnachahmliche, geradezu zärtliche Weise. Kurz vor seinem Tode bat Georgs Vater darum, noch nicht mit dem kleinen Georg über Tod und Sterben zu sprechen, denn dazu müsse dieser zwölf oder 14 Jahre alt sein, im übrigen verfügte er, dass die rote Kinderkarre in der Garage immer aufzuheben sei.
Wie es der Zufall will, sucht die väterliche Großmutter nach etwa elf Jahren etwas und stößt dabei in der roten Kinderkarre auf einen dicken, vom Vater an Georg adressierten Brief. Von Emotionen überwältigt, bestimmt der Junge, die vielen, vielen Blätter - die Geschichte des Orangenmädchens - allein lesen zu wollen. Der wartenden Familie wird unendliche Geduld abverlangt, aber Georg trifft sich in den Zeilen mit seinem Vater, lernt ihn und seine Mutter ganz neu kennen und wird immer wieder zum Nachdenken verfährt.
Grundthema des kleinen Romans dürfte die Unabdingbarkeit der Liebe sein: Die Liebe des Vaters zu seinem Sohn, die große Liebe seines Vaters - Georgs Mutter, die Liebe zum Leben überhaupt, zum Miteinander, zum Dasein. Vor allem spricht der verstorbene Vater mit seinem nun 15-jährigen Sohn. Wir treffen auf eine Geschichte, die beider Leben umfasst. Finden Vater und Sohn zueinander? Was verbindet die beiden? Das Orangenmädchen - seine Geschichte zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufzeichnungen des Verstorbenen. Als Student und von Selbstzweifeln geplagt sucht er beharrlich nach der jungen Frau, der er einmal half, viele Orangen aufzuheben - Georgs Mutter.
Der heranwachsende Georg lebt mit und in dieser Geschichte, so wird im Verlaufe der Zeit aus den Aufzeichnungen seines Vaters und seinen eigenen Erinnerungen etwas Ganzes.
"Das Orangenmädchen": ein Leseerlebnis - schon für junge Menschen ab 13.

EG

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Albrecht Knaus / Penguin Random House Verlagsgruppe

In Jenny Erpenbeck, 1967 in Ostberlin geboren und dort aufgewachsen, begegnen wir einer Schriftstellerin und Theaterregisseurin mit etlichen bedeutenden Auszeichnungen.
"Gehen, ging, gegangen" - ein Buchtitel, der nicht unbedingt leicht und gleich zum Lesen einlädt. Aber wenn, dann macht die Annäherung den Lesenden immer neugieriger - aber worauf - auf Raum und Zeit, auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges? Ja, er möchte wissen, wieso und warum der gerade pensionierte Altphilologe Richard sich mit den in Berlin gestrandeten Flüchtlingen befasst.
Für Richard - allein lebend - gibt es nichts zu tun, so fällt er gehend quasi über die im Jahr 2015 am Berliner Oranienplatz campierenden Afrikaner. Andererseits kommen die Flüchtlinge von weit her - gestrandet und haben ebenso nichts zu tun, sehen keine Perspektive. Weltfremd nähert sich der Pensionist diesen mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. Er, ein Gutmensch, ein Helfender, ein Gutgläubiger, begleitet einige der Gestrandeten, vertraut ihnen - in mancher Hinsicht gleichen sie sich: der oft naiv anmutende Helfer und die naiven, von westlicher Lebensart überforderten, aber gewitzten Hilfesuchenden. Gewitzt, denn der pensionierte Professor wird "um die Fichte geführt" und ausgenutzt. Dennoch profitieren beide Seiten voneinander. Gerade Richard verlässt seinen Elfenbeinturm und lernt Wege der Flucht mit dem Flüchtlingsalltag kennen. Er versucht politische Gegebenheiten nachzuvollziehen, taucht in die normative Realität Deutschlands und der EU ein. Nicht nur er, sondern auch Leser und Leserin erahnen die komplexe Welt des Ausländerrechts.
"Jenny Erpenbecks gründlich recherchierter Tatsachenroman erscheint an der Schwelle einer dramatischen Ausweitung des Flüchtlingsproblems wie der politischen Auseinandersetzung damit." (Friedmar Apel, FAZ vom 27.8.2015). Dieses informative, gut lesbare, wunderbar authentische Buch hilft dabei, das Flüchtlingsproblem und die damit geschaffene Situation zu verstehen. Es lässt uns staunend Monate des Flüchtlingsdramas 2015 miterleben: komische und nachdenklich stimmende Situationen.

EG

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Wer einmal zurückblicken und vielen bekannten Gestalten des frühen 19. Jahrhunderts begegnen möchte, der sollte sich in das Buch vertiefen. Mit dem wunderlich anrührenden Familien- und Sittengemälde, das uns in diese nach-napoleonische Zeit blicken lässt, gilt es, sich Karen Duve anzuschließen und Nettes kurzem, aufregendem Sommer mit Zeit und Muße nachzuspüren.
Durch und über die ungemein agile, impulsive und vielseitig interessierte, nicht der Zeit angepasste und hochgradig kurzsichtige Annette Droste-Hülshoff, einem Freifräulein, erfahren wir Erstaunliches: Ihre Kutschfahrten auf den holprigen Straßen des heimatlichen Westfalen führen zu Nasenbluten, adlige Frauen dürfen nur sticken, aber neben dem Junker studiert nun auch der Bürgersohn in Göttingen - dennoch bleiben die Standesunterschiede zementiert. Große Güter brauchen Erben. Stirbt eine Adlige etwa bei der Geburt eines Kindes, kommt es schnell zur erneuten Eheschließung des Witwers. Infolge der stetig wachsenden Verwandtschaft bedarf es eines großen zeitlichen und logistischen Aufwands, um den oft lästigen und verpflichtenden Besuchsregularien mit der Kutsche zu genügen - dies in der letzten Phase der seit dem 15. Jahrhundert währenden kleinen Eiszeit mit unendlich viel Regen.
Erstaunlicherweise ging der Adel diesem Phänomen bereits nach. Könnten Sonnenflecken etwas damit zu tun haben? Mythologie und Spiritismus, Hausgeister und Althochdeutsches, Poesie und Prosa beschäftigen die jungen Leute; es werden Märchen, Sagen und alte Lieder gesammelt - vor allem natürlich für die Brüder Grimm. Wem ist gegenwärtig, dass Jakob und Wilhelm Grimm noch drei Brüder und eine Schwester hatten, die einander eng verbunden waren und in diesem Sommer nahezu Teil von Annettes Leben gewesen zu sein scheinen. Und mittendrin entwickelt sich Annettes unglückliche - da nicht standesgemäße - Liebe zu Heinrich Straube, einem armen, überaus kauzigen bürgerlichen Studenten. Annettes studierender junger Onkel August lädt ihn wie viele andere häufig auf den väterlichen Bökerberg ein. Überdies hören wir von Heinrich Heine, der damals noch Harry Heine hieß, von Hoffmann, der sich dann Hoffmann von Fallersleben nannte, es ist die Rede von Kotzebue und seinem Mörder Sand oder von Friedrich Gaus, dem unzuverlässigen Brentano und ein bisschen vom alten Goethe. Ein kleines zeitgeschichtliches, höchst informatives Kaleidoskop.
Die Autorin hat dem Roman einen erhellenden Epilog angefügt, der auf das weitere Leben der Protagonisten blickt - besonders natürlich auf das kurze der Annette von Droste-Hülshoff, das in Meersburg am Bodensee endete.

EG

Alex Capus: Léon und Louise

Verlag: dtv

Der 1961 in Frankreich geborene und seit Langem in der Schweiz lebende Schriftsteller Alex Capus sammelt - so scheint es - ganz besondere historische Ereignisse, um seine Leser mit hinein in die Welt dieser Kleinode zu nehmen.
So in seinem 2011 erschienenen Roman - Capus' Eintauchen in die Liebesbeziehung zwischen Léon und Louise ist für ihn zugleich, so ist zu lesen, sein Erinnern an die ungewöhnliche Lebensgeschichte seines Großvaters väterlicherseits.
Der kleine Roman "Léon und Louise" ist kein brandaktuelles Buch, aber ein aktuelles - in jeder Buchhandlung als Taschenbuch zu finden. Bedingt durch die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts werden Léon und Louise in Irrungen und Wirrungen gestürzt. Lebendig und empathisch lässt uns der Schweizer Autor an dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte teilhaben, verwoben mit den gut nachvollziehbaren Geschehnissen in Frankreich.
"Unter allen Liebespaaren, glücklichen und unglücklichen, die uns die Literatur je ans Herz gelegt hat", so K. Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung (Klappentext), "sind Léon und Louise eines der originellsten und überzeugendsten Exemplare."
Man möchte es wirklich glauben: Die Liebe überwindet alle Grenzen. Liebe verzeiht und heilt. Liebe ist einzigartig, auch wenn alles dagegen zu sprechen scheint.
Ein Mut machendes und überaus lesenswertes Buch, auch heute noch aktuell - 79 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

EG

Mechtild Borrmann: Der Geiger

Knaur Verlag

Die Autorin, mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, wurde für "Der Geiger" als erste deutsche Autorin mit dem französischen Publikumspreis "Grand Prix des Lectrices" der Zeitschrift Elle ausgezeichnet. Sie ist uns auch durch bewegende zeitgeschichtliche Romane wie "Trümmerkind" und "Grenzgänger" bekannt.
Der Roman "Der Geiger" bewegt und fasziniert - spannend, aber ein Krimi? Es stellt sich diese Frage. Denn eigentlich ermittelt kein Kommissar. Familien- und Zeitgeschichte, Vergangenheit und Gegenwart bringen uns die letzten 70, 80 Jahre nahe. Im Mai 1948 spielt der russische Geiger Ilja Grenko auf seiner Stradivari sein letztes Konzert in Moskau. Er wird vom Geheimdienst verhaftet, seine Frau muss mit zwei kleinen Söhnen Moskau verlassen. Der Geiger verschwindet spurlos - ebenso die Stradivari.
Sein deutscher Enkel Sascha wird tragischer Weise auf diese Spur gestoßen. Dabei kommt der Geige, die der Familie Grenko von einem Zaren geschenkt wurde, eine zentrale Rolle in Stalins Russland und in Deutschland zu. Sie brachte und bringt die Familie in tödliche Gefahr.
Ein besonderes, spannendes Leseerlebnis, über eine Zeit, die uns oft fremd und nicht zugänglich zu sein scheint.

EG

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Carl Hanser Verlag,

Was könnte einem Philosophen näher liegen, als seinen Roman 'Das Gewicht der Worte' zu nennen. Hinter Pascal Mercier verbirgt sich lt. Wikipedia Peter Bieri.

Er studierte in Heidelberg Philosophie, Anglistik und Indologie und "promovierte ... mit einer Arbeit zur Philosophie der Zeit des englischen Philosophen John McTaggart Ellis McTaggart.1981 habilitierte er sich an selber Stelle. -.von 1993 bis 2007 (hatte er, E.G.) den Lehrstuhl für Philosophie an der Freien Universität Berlin inne. Bieri war Mitbegründer des Forschungsschwerpunktes Kognition und Gehirn der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ab 1995 trat Bieri unter dem Pseudonym "Pascal Mercier" auch als Romanautor in Erscheinung. Er lüftete seine Pseudonym anlässlich des Erscheinens seines zweiten Romans drei Jahre später. Der 2004 veröffentlichte Roman Nachtzug nach Lissabon wurde zum Bestseller."1

Wörter und deren vielfältige Bedeutung, die Poesie und das Phänomen der Zeit, die menschliche Lebenszeit und die medizinische Wissenschaft prägen u. a. das Leben des Autors und vor allem das seines Protagonisten Leyland im Roman Das Gewicht der Worte.

Simon Leyland ist Brite, ein "Sprachenmensch", ein Sprachenliebhaber, einer, der viele Sprachen erlernt - aber er ist kein Wissenschaftler. Ein begnadeter Übersetzer, so scheint es, ein Autodidakt. Leyland verliert früh seine Mutter, lebt bei seinem traumatisierten Vater, verlässt mit 17 Jahren eigenmächtig ohne Abschluss die Schule in Oxford und - wie der Zufall es will - beginnt in London zu übersetzen. Sein Leben findet in England und in Italien statt. Er heiratet eine italienische Journalistin, beide leben mit Tochter und Sohn später in Turin, weil die Ehefrau den väterlichen Verlag erbt und diesen 13 Jahre leitet.

Zwei Schicksalsschläge verändern Leylands Leben: Seine Frau verstirbt in Turin und bei ihm wird einige Jahre später ein aggressiver Hirntumor mit infauster Prognose festgestellt. Sein Todesurteil vor Augen regelt er sein Leben, durchlebt fürchterliche Wochen ... "was habe ich aus der Zeit meines Lebens gemacht?" (S. 87) - und dann stellt sich heraus, dass es bei der Diagnose zu einer Verwechselung kam. Ein neues Leben mit mehr Fragen als Antworten beginnt, mit Zorn und Ohnmacht und dennoch - einer Chance: Er erbt das Haus seines Onkels in London. Dorthin zieht er sich zurück - mit ungeahnten Folgen.

Leyland gewinnt allmählich an Profil, nicht zuletzt, weil er allein in einem faszinierenden Netzwerk Gleichgesinnter lebt: Erwachsene Kinder, hier wie dort Freunde und in London begegnen ihm neue interessante Menschen. Wie Leyland sind auch sie in irgendeiner Form durch Lebensabbrüche, Neuanfänge, Ängste, Vorlieben für Poesie, für Sprachen und deren sensiblen Besonderheiten geprägt.

Aber es gibt auch eine ihn quälende Seite. Um Erleichterung zu finden, schreibt er seiner verstorbenen Frau Briefe, die ihm ermöglichen, seine Haltung zum Leben zu reflektieren, über Begegnungen und Erlebtes noch einmal zu sprechen, über viele Schwierigkeiten nachzusinnen ..."Ich habe den Halt in der Zeit verloren ..." (S. 98)."Stets sind es die Wörter, die mir helfen, den Bann der Zeitlichkeit zu brechen" (S. 221).

Was bleibt? Leylands gewonnene Freiheit, seine große Liebe zur Poesie und zu den Wörtern, die die Zeit stillstehen lassen, ermutigen ihn, sich zwar zweifelnd aber dennoch auf einen neuen Weg zu machen. Ein Mann, der dem Gewicht der Worte folgen muss - nun als Autor.

Ein lesenswertes Buch, weil auch uns Literatur in mancher Hinsicht Freiheit verspricht!

1 Wikipedia: Peter Bieri

EG

Yasmine Ghata: Die Nacht der Kalligraphen

­­Verlag: Meridiane Ammann

Yasmine Ghata, geboren 1975 in Frankreich, hat eine libanesische Mutter, die Schriftstellerin Vénus Khoury-Ghata, und einen türkischen Vater. Sie studierte Islamische Kunstgeschichte und ist spezialisiert auf die Erstellung von Expertisen für islamische Kunst.

Schön wie ein Märchen aus 1001er Nacht erzählt Yasmine Ghata die Geschichte ihrer türkischen Großmutter. In ihrem zärtlichen Nachruf zeichnet sie das Bild einer beeindruckenden Frau - furchtlos, leidenschaftlich, besessen - in einer unruhigen Zeit. Sie spannt mit ihrer Geschichte einen Bogen vom Osmanischen Reich bis in die Gegenwart.

"Ich übte mich in Kalligraphie, um meine Hand darüber weg zu trösten, dass sie voreilig versprochen worden war" - erinnert sich Rikkat und erzählt die Geschichte ihres Lebens aus einer ungewöhnlichen Sicht: Sie schildert ihren Tod und "vermenschlicht" ihre begabten Hünde und ihre Werkzeuge, die ihr sagen, wie sie malen muss. Und da ist noch ihr Lehrmeister, der auch schon lange gestorben ist. Er befiehlt ihr aus dem Jenseits, den schwierigen Weg einer weiblichen Kalligraphin konsequent zu gehen, ungeachtet auch des Verbotes von Kemal Atatürk, der ihrem Land die lateinische Schrift aufzwingt, in der kein Platz mehr zu sein scheint für die arabische Schreibkunst. Da Rikkat nicht bereit ist, ihre Kunst der Familie zu opfern, lässt sie zwei Männer, zwei Scheidungen und zwei Söhne hinter sich, gestützt von ihrer islamischen Religion, mit der jeder Kalligraph eng verbunden ist. Aber sie überwindet auch die traditionelle Enge der Schreibkunst und entwickelt sie weiter zu einem moderneren Stil.

MS

Caroline Vermalle: Denn das Glück ist eine Reise

Verlag: Lübbe

"Ach, die Zeit, ja, sie ist vergangen, mein Kind. Die Alten, die bemerken es gut, wie die Zeit vergeht. Freunde sterben, sie verlieren den Kontakt zu ihren Enkelkindern und leben nur noch in den Erinnerungen. Die junge Leute aber, sie wissen nichts über die Zeit. Sie sind unbezwingbar, immer in Eile und unerreichbar."

Zwei alte Freunde - beide über 80 - brechen zu ihrer eigenen "Tour de France" auf: 3500 Km in zwei Monaten stehen ihnen bevor, die sie nicht mit dem Fahrrad sondern mit dem Auto fahren wollen. Voller Vorfreude haben sie gemeinsam zu Hause die Strecke akkurat festgelegt und jede Etappe geplant.

Voller Euphorie machen sie sich auf den Weg. Sie lernen Land und Leute kennen, besuchen Märkte, genießen die französische Küche, besichtigen schöne Orte, schauen sich Sehenswürdigkeit an. Zwischendurch streiten sie. Charles verliebt sich in Ginette und fühlt sich auf einmal um Jahre jünger ... Georges lernt sogar, SMS zu schreiben, um von unterwegs mit seiner Enkelin zu kommunizieren.

Warum verspürt man mit 83 Lust auf ein solches Abenteuer? Ist ein derartiges verrücktes Unternehmen abwegig und sinnlos? Wollen sich die beiden alten Herren einen Jugendtraum erfüllen oder ist es die letzte Chance, mit einer großen Verbeugung von der Bühne abzutreten?

"Denn das Glück ist eine Reise" erzählt von Liebe, Zuneigung, Jugend und Alter, vom Leben und von Erinnerungen, von den Eltern und Großeltern, von der Zuneigung zu der älteren und zu der jüngeren Generationen. Es ist ein Büchlein voller Charme, das man liest wie man sich ein Bonbon auf der Zunge zergehen lässt.
Ein wunderschönes Buch, das einmal mehr beweist, dass es wichtig ist, den Menschen, die wir lieben zu sagen, dass wir sie lieben.

MD-K

Anne Gesthuysen: Mädelsabend

Kiepenheuer & Witsch GmbH

Oma und Enkelin - zwei starke Frauen vom Niederrhein und die Frage: Wie viel Ehe verträgt ein erfülltes Leben? Eine Ehe steht nach sechzig Jahren vor dem Aus - und eine junge Mutter ringt um eine Entscheidung, die nicht nur ihr Leben bestimmen wird. Ruth und Walter leben seit Ruths Sturz im Seniorenheim Burg Winnenthal. Walter möchte am liebsten sofort zurück nach Hause, die vielen lebenslustigen Witwen hier sind ihm unheimlich. Ruth hingegen genießt die Gesellschaft von Gleichgesinnten. Sie lauscht den Lebensgeschichten der anderen Frauen und singt endlich wieder im Chor. Keine zehn Pferde werden sie hier wegbringen. Als ihre Enkelin Sara, Mutter eines kleinen Sohnes, die Zusage für ein Forschungsstipendium in Cambridge erhält und von ihrem Mann vor eine Entscheidung gestellt wird, sucht sie Rat bei Ruth.
Geschickt verwebt Anne Gesthuysen Gegenwart und Vergangenheit und erzählt von einem bewegten Frauenleben am Niederrhein, das den Bogen vom Zweiten Weltkrieg über die piefigen Fünfziger- und die wilden Siebzigerjahre bis in die Jetztzeit spannt. Von der Liebe und kuriosen Hochzeitsbräuchen, von Karnevalstraditionen und Anti-AKW-Treckerfahrten. Von den Herausforderungen einer Jahrzehnte währenden Ehe, von patriarchalen Machtstrukturen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Humorvoll, warmherzig und feinfühlig spürt sie der Frage nach, was zwei Menschen zusammenhält und welche Bedeutung Freiheit und Selbstverwirklichung haben. Eindrücklich zeigt sie, dass es keine einfachen Antworten gibt, nur individuelle Wege zum Glück.

EG

Gerald Hüther: Raus aus der Demenzfalle!

Wie es gelingen kann, die Selbstheilungskräfte des Gehirns rechtzeitig zu aktivieren
Verlag: Goldmann

Der 1951 geborene deutsche Neurobiologe hat sich nicht nur auf die Erforschung des Gehirns spezialisiert, sondern es gelingt ihm als Autor auch, die wirklich komplexen Sachverhalte auf ein für den lesenden Laien verständliches Niveau herunter zu brechen.

Mit dem 2019 erschienenen Taschenbuch konfrontiert er uns mit ganz erstaunlichen, Mut machenden Forschungsergebnissen. Er bittet den Lesenden, sich inspirieren zu lassen, ... "Ihr Leben und Ihr Zusammenleben mit anderen künftig so zu gestalten, dass Sie glücklich und ohne Demenz älter werden können" (S. 20), denn: Alter habe nichts mit Demenz zu tun, sondern mit der Lebensweise. Es lohnt, Gerald Hüthers Gedanken zu folgen, damit wir von unserer vorhandenen Regenerations- und Kompensationsfähigkeiten des Gehirns wissen und sie aktivieren.

Nahezu jeder kennt den Namen Alois Alzheimer und ordnet dieser speziellen Alzheimer-Demenz besondere Fakten zu. In diesem Kontext hat die eine oder der andere von der amerikanischen sog. "Nonnenstudie" aus dem Jahr 2001 gehört, in der etwa 600 mehr als 70 Jahre alte Nonnen 10 Jahre lang beobachtet wurden. Nach deren Tod wurden z. T. massive degenerative Veränderungen im Gehirn festgestellt, obwohl alle Frauen bis zum Tod geistig anspruchsvolle Aufgaben wahrnehmen konnten.

Hüther geht nun den überaus interessanten Fragen nach, was dies für unser Leben bedeuten mag. Was macht Menschen krank? Was befähigt Menschen, auch dann gesund zu bleiben, wenn sie krank machenden Einflüssen ausgesetzt sind? Was bewirkt die Reaktivierung des neuroplastischen Potentials im Gehirn?

Reaktivierung contra Heilung? Und das, obwohl wir uns oft im Glauben wähnen, dass bei uns nahezu jede Erkrankung geheilt werden kann - so auch die Demenz in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Aber die Nonnenstudie zeigt, dass allein Lebensalltag und Lebenswandel bedeutsam sind, so z. B. die jedem angeborene Lust am Lernen, die Freude am eigenen Entdecken und Gestalten, die wir alle schon bei unserer Geburt mit auf die Welt gebracht haben; es gilt, den Selbstheilungskräften zu vertrauen, sich zu mögen und zu pflegen. Für all das braucht es - so der Autor - keine Medikamente. "Dazu ist jeder Mensch zu jeder Zeit seines Lebens bis ins hohe Alter fähig. Aber es ist schwer, diese Freude bis ins hohe Alter allein wiederzufinden" (vgl. S. 86 / 87). Hüther zufolge gelte es, vor allem Gemeinschaften zu finden. "Für die Reaktivierung des neuroplastischen Potentials im Gehirn sind solche bunten, altersgemischten und Vielfalt bietenden Gemeinschaften sogar besser geeignet als die von Nonnen in einem Kloster" (S. 87).

Tröstlich ist schließlich sein Hinweis auf Studien zum Rückgang dementieller Erkrankungen in den USA und in GB. Studien, die nahelegen, dass die Häufigkeit dementieller Erkrankungen abnehmen wird, sobald es immer mehr Menschen auch beim Älterwerden gelingt, ihr Leben und ihr Zusammenleben in der Gemeinschaft mit anderen so zu gestalten, dass ihre positive Lebensgrundhaltung wieder gestärkt wird. "Die Generation der heutigen Senioren unterscheidet sich schon jetzt ganz beträchtlich von der ihrer Eltern. Sie bezeichnen sich oft selbst als "Golden Agers" und viele von ihnen erleben sich als aktive und selbstbewusste Gestalter ihres Lebens im "Ruhestand" (S. 112).

Wenn das nicht ermutigend ist! EG

Jhumpa Lahiri: Einmal im Leben. Eine Liebesgeschichte

Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Rowohlt Verlag

Jhumpa Lahiri Vourvoulias (*11. Juli 1967 in London) ist eine US-amerikanische Autorin indischer Abstammung. Viele ihrer Kurzgeschichten haben Leben und Probleme von Indo-Amerikanern, insbesondere Bengalen, zum Thema. 2000 wurde sie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Sie schreibt seit 1999. Nach unzähligen z.T. preisgekrönten Büchern erschien 2013 das ebenfalls sehr lesenswerte, Buch: Das Tiefland. übersetzt von Gertraude Krueger

Hema und Kaushik lernen sich als Jugendliche in Massachusetts kennen. Ihre Eltern, die aus Bengalen stammen, sind befreundet; sie selbst können wenig miteinander anfangen. Jahrzehnte später treffen sich die beiden, sie verlieben sich - aber es ist zu spät. -

Der Roman zeigt das Leben der Menschen in unterschiedlichen Kulturen, die Schwierigkeiten der Integration nach der Einwanderung in die USA, die dortige Entwicklung junger indischer Menschen mit den gegebenen Möglichkeiten (die diese auch zu nutzen wissen). Zugleich wird aber das Sich(ein)fügen in althergebrachte indische Traditionen thematisiert - so suchen die Eltern immer noch den Ehemann der Tochter aus und diese fügt sich, obwohl sie ihre eigentliche Liebe damit preisgeben muss. Glück und Not, Freundschaft und Feindschaft, Licht und Schatten, Liebe und Not, Leiden und Tod - ein ewiger Kreislauf, alles deutet auf das grundsätzliche Recht des Menschen auf eine Liebesbeziehung hin, diese kann aber nicht bzw. nur kurz gelebt werden. Das Glück wird für beide unmöglich. Es ist ein lesenswertes Buch, u. a. weil Aspekte des Miteinander leben herausgearbeitet werden.

EG

Lutz Seiler: Stern 111

Suhrkamp Verlag

Denkt man an Lutz Seilers Roman Cruso - dann sicher an die seltsam zusammengewürfelte Koch- und Lebensgemeinschaft junger DDR-Gegner im letzten Gasthof auf Hiddensee. Gleichsam nahtlos knüpft der Autor an den dort eingeläuteten Aufbruch in den Westen an und beschreibt im Stern 111 den Exodus einer aufbrechenden Familie unmittelbar nach dem Mauerfall: In Gera, Berlin und Amerika - so, als hätte er es selbst erlebt. Es war vermutlich so.
Die Protagonisten, Inge und Walter Bischoff und deren Sohn Carl, vollziehen im November 1989 eine 180 Grad Wende. Das Ehepaar macht sich mit Akkordeon und Rucksäcken beladen überstürzt, gerade als hätten sie es lange planen können, von Gera aus auf in den Westen: Auffanglager, Notunterkünfte, Arbeitssuche. Sie lassen den über ihr Warum ahnungslosen Carl, einen studierenden Maurer und Poeten, zurück. Er weiß nur, er habe auf die Geraer Wohnung und auf das in Jahrzehnten sorgsam gealterte Auto, einen Shiguli, aufzupassen - als einsamer Statthalter im Osten.
Die merkwürdige Geschichte der Eheleute verfolgt man staunend, manchmal ungläubig und fragt sich, was die beiden wohl antreiben mag. Es ist etwas lange Aufgespartes, ein Traum von Amerika, ein Leben mit der Musik. Dann folgt der Leser Carls Weg. Er versagt sich dem elterlichen Wunsch und entweicht verstohlen aus Gera, verlässt sein altes Leben und fährt mit dem Shiguli im November 1989 nach Ost-Berlin. Verirrt und verwirrt trifft er in ziemlicher Not eine bunte Gesellschaft überwiegend junger Leute, ein ihn wärmendes und nährendes Rudel. Es lebt in alten abbruchreifen Häusern an der alten Grenze und betreibt gut organisiert die erste Arbeiterkneipe "Die Assel". Schrüg ist alles. Aber Carl, der unbehaust im Auto nächtigen musste, spürt dankbar das Miteinander und die Achtsamkeit füreinander.
Das neue Leben von Sohn und Eltern findet in dieser Zeit nicht zusammen. Hier arbeitet Carl in der Asseler "Unterwelt", einer skurrilen unvorstellbaren Welt, hier trifft er seine Geraer Lebensliebe Effi wieder. Eine Liebe, die unerfüllt und vor allem unerwidert bleibt. Dort verfolgen die Bischoffs zielstrebig ihren Traum, erledigen zunächst Hilfsarbeiten und lernen das Anderssein des Westens kennen.
Wie auch im Roman Cruso spielt das Radio eine besondere Rolle - der Stern 111, das Kofferradio der DDR.
Schließlich und endlich fügt sich alles wieder zusammen. Den Eltern gelingt die Einreise in die USA und der Einstieg in ein Sport- und Musikerleben. Carl wird eingeladen und kommt - so der Epilog - erst 1992 aus Los Angeles zurück. Auch die Eltern leben später wieder in Gera - aber nun als Eigentümer der alten Wohnung.
Ein Roman der Wendezeit: exotisch, oft unrealistisch anmutend, spannend, zeitgeschichtlich, berührend - ein lesenswerter Roman.

EG

Petra Haller: Meine wundervolle Buchhandlung

Dumont-Verlag

Kann ab morgen alles anders sein? Es kann! Die österreichische Autorin hat sich mit ihrem deutschen Mann gleichsam über Nacht getraut, eine alt eingesessene Buchhandlung in Wien zu kaufen und lebt mit ihrer Familie im wahrsten Sinne in und über dieser Buchhandlung. Es ist eine einzigartige Buchhandlung, die zu ihrer Lebensgeschichte wird. Teil der Geschichte werden Freunde, Nachbarn und Stammkunden, die der Neu-Unternehmerin helfen und so erst das wunderbar leicht chaotisch anmutende Buchhändlerdasein ermöglichen. Die Autobiografie ist ein gut lesbares, humorvolles Beispiel für nie versagenden Lebensmut. Sie ist eine Liebeserklärung an das Buch, seine Käufer und an die Familie inmitten nie endender Mühen der Selbstständigkeit, "...Bücher sind es dann, die einen vergessen lassen, dass man viel zu viel arbeitet und viel zu wenig dabei verdient..." Nicht zuletzt klingen dezent kulturelle Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland an.

EG

Thommie Bayer: Fallers große Liebe

Verlag Piper

Titel und Cover des kleinen Romans lassen ahnen, dass er in eine heitere Geschichte führt. Eine Geschichte, die die uns bekannten Fragen des Lebens oft humorvoll und lebensklug thematisiert. Freundschaft und Liebe, Vertrauen und Zweifel prägen das Leben der beiden Protagonisten: Faller, ein älterer Bücherfreund und Alexander, ein glückloser junger Antiquar. Eines Tages taucht der rätselhafte Faller im Antiquariat auf und es gelingt ihm verblüffend schnell, den jungen Mann als Chauffeur für eine längere Reise zu gewinnen - ohne Ziel und Vorhaben preiszugeben. Was den belesenen Antiquar und einen, der "einmal ein Leser werden wollte", verbindet, bleibt bis zum überraschenden Ende offen.

Ein unterhaltsames, ab und an durchaus ernstes Buch. Mit Vergnügen kann man die beiden auf ihrer irgendwie geheimnisvollen Reise durch Literatur, Kunst und Alltäglichem begleiten, zugleich bei der Suche nach der Antwort auf die schwierigste Frage des Lebens.

EG

Eva Demski: Gartengeschichten

Verlag: insel taschenbuch

Eva Demski sagt in ihrem klugen und charmanten Buch über den Garten: "Er hat mich mehr als einmal gerettet, die Dinge zurechtgerückt, mich zum Lachen gebracht, wenn mir zum Heulen war. Er bereitet mir Niederlagen, aber er tröstet mich, wenn die Welt mir welche bereitet."
Dies ist ein Gartenbuch der besonderen Art. Die Geschichten haben eine große Identifikationskraft nicht nur für GartenliebhaberInnen. "Neben der Kultivierung von Pflanzen geht es auch um die Hege und Pflege des Lebens" (Florian Balke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), mal spöttisch, mal liebevoll, mal kritisch.
Z. B. erinnert die Autorin an die Mutter, die sich ßber ihren großen Garten beschwerte als "ein Lebewesen, das unmäßige Forderungen stellt", der aber auch Katzenfriedhof war und eine "geniale Kombination von Farben und Pflanzen". Oder an eine Einladung von Dichtern nach Sarajevo 1996, wo die blühenden Kirschbäume, die zerschossenen Häuser, die Soldaten und die Dichter überhaupt nicht zusammenpassten und die Besucher verlegen machten.
Da gibt es die großartige Gärtnerin Annie, die im späteren Alter die Freude an der körperlichen Liebe für sich entdeckt. Und die philosophische Erkenntnis, dass "der Gärtner das große Ganze nicht ändern kann. Seine Erde kann er aber fragen, was sie will, und ihr zuhören". Aber Demski schildert auch, woran man den Garten eines Misanthropen erkennt, oder sie mutmaßt, wie Epikurs Garten ausgesehen haben könnte und wie sich die Gedanken der Philosophen in deren Gärten entwickeln konnten. Sie spekuliert auch, ob sich die sieben Todsünden im Garten ins grüne Ganze einfügen und an Bedrohlichkeit und Strafwürdigkeit verlieren. Sie macht sich auf liebevolle Weise lustig über Vorgärten und beklagt, dass immer mehr von ihnen Parkplätzen weichen oder öde zugepflastert werden. In einer anderen Geschichte geht es um Fluch und Freude der Flugsamen, Gäste im Garten, die sich an keine Gestaltungsordnung halten - wohl den Gärtnern, die das kreative Chaos lieben. Es geht auch um eine Blumenverkäuferin. Sie ist "eine Art Biographin in Blumen: Geburt, Liebe, Krankheit, Genesung, runde Geburtstage, Trennung, Versöhnung, schließlich der Tod - alles hat seine Blumen". Aber auch über Englische Gärten, Paradiesgärten, (Gärtner) Paare wie Fürst Pückler-Muskau und seine Frau philosophiert Eva Demski mit manchen überraschenden Gedanken, rührenden Geschichten, treffenden Allegorien und einer wunderbaren Kenntnis des Pflanzenreichtums.
Sie hat zu ihren Geschichten einen adäquaten Illustratoren gefunden: Michael Sowa trifft mit seinen Bildern genau den Humor und die Liebe der Menschen zu ihren Gärten.
Dieser kleine Schatz ist nicht mehr ganz jung. Sie finden ihn aber in Patientenbücherei. Ich wünsche Ihnen eben so viel Freude am Schmökern, wie ich ihn hatte. Vielleicht zaubern Sie auch anderen ein Lächeln ins Gesicht, wenn Sie die Geschichten vorlesen.

MS

Stefan Klein: Da Vincis Vermächtnis oder wie Leonardo die Welt neu erfand

Verlag: S. Fischer

Mit dem Namen Leonardo Da Vinci verbinden die meisten sofort die Mona Lisa und ihr besonderes Lächeln, vielleicht auch Konstruktionszeichnungen von Fluggeräten, die sich aber als nicht flugtauglich erwiesen haben, sonst nicht viel mehr.

Stefan Klein vermittelt ein ganz anderes, viel umfassenderes Bild von Leonardo da Vinci. Von einem sehr vielseitig talentierten, überaus neugierigen und begeisterungsfähigen Menschen, der durch seinen übergroßen Nachlass der Menschheit wirklich ein Vermächtnis schenkte.

Leonardo wird 1452 als uneheliches Kind eines Notars in Vinci nahe Florenz geboren. Er erhält eine umfassende künstlerische Ausbildung in Malerei und Bildhauerei, sowie in etlichen anderen Gewerken, die den Grundstein seiner späteren Forschungen bilden. Nicht in enge Denkstrukturen durch eine höhere Schulausbildung gezwungen, entwickelt Leonardo schon früh ein intensives Interesse an der Natur und damit verbunden den Wunsch, die Dinge und Vorgänge zu verstehen wie sie sind und auch so darzustellen. Ein überaus lesenswertes Buch über einen faszinierenden Menschen.

BA

Britta Heidemann: Willkommen im Reich der Gegensätze - China hautnah

Verlag Lübbe

Der Klappentext verspricht einen Rundgang mit der Autorin durch Peking sowie Einblicke in viele Facetten Chinas und es ist so: ein kurzweiliger Spaziergang mit Heidemann, denn sie hat China schon als Gastschülerin erlebt, studierte dort und nahm 2008 als Degenfechterin an der Olympiade in Peking teil (Goldmedaille). Daher ist das 2014 erschienene Buch überaus lesenswert. In lockerer sympathischer Form wird Alltägliches, Unbekanntes erklärt und die Geschichte Chinas gestreift. "China hautnah" meint auch Schwierigkeiten - etwa die strenge Wohnsitzkontrolle, die langwierige Modernisierung des Rechtssystems, die Bedeutung des Alkohols oder was Unternehmen schon bei der Übersetzung der Markennamen beachten müssen. Amüsiert lernt man, dass etwa BMW auf Chinesisch "baoma" (= "Juwelenpferd") und Coca-Cola "kekoukele" (= "köstlich und glücklich") heißt. Wer mehr darüber erfahren möchte, wie Chinesen leben und arbeiten, für den lohnt der Rundgang mit Britta Heidemann.

EG

Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer

(Aus dem Hebräischen übersetzt)
Verlag Kiepenheuer & Witsch

Dieser preisgekrönte Roman wurde in Israel vom Erziehungsministerium für den Gebrauch an Gymnasien gestrichen, was dort zum Skandal führte. Es geht um eine ungewöhnliche, wunderbare Liebesgeschichte in einer ungewöhnlichen Zeit. Die Israelin Liat und der Palästinenser Chilmi begegnen sich nach dem 11. September 2001 im noch spannungsgeladenen New York. Für beide beginnen einzigartige Monate, denn Liat ist nur für ein Jahr in der Stadt. Die lebenstüchtige übersetzerin und auch der eher unbedarfte Künstler wissen aber, dass ihre Zuneigung mit Blick auf die Familien in Tel Aviv und Ramallah nach diesem Jahr keine Zukunft hat. Doch wenn die Zeit um ist, kann dann eine Liebe, die nicht sein darf, vorbei sein? Nein, die Gefühle füreinander sind so stark, dass Chilmi Liat in den Nahen Osten folgt - mit tragischen Folgen. Ein wunderbares Buch, das uns am Alltag der beiden auf dem Hintergrund jüdischer und arabischer Kultur teilhaben lässt.

EG

Dörte Hansen: Mittagsstunde

Penguin Verlag

Die Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ?
Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer büuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.

EG

Dörte Hansen: Altes Land

Knaus-Verlag

Gräfin Hildegard von Kamcke und ihre kleine Tochter Vera, Flüchtlinge aus Ostpreußen, werden 1945 zähneknirschend von Ida Eckhoff auf deren Bauernhof im Alten Land aufgenommen. Sie müssen hart arbeiten, aber unterordnen ist nicht Hildegards Ding. Also lässt sie ihr Kind auf dem Hof und zieht nach Hamburg. Vera erbt den Hof. Sie will ihn keinesfalls verlassen, aber wohl fühlt sie sich dort nicht. 60 Jahre später steht wieder eine Mutter mit ihrem Kind vor der Tür. Auch Vera nimmt die Beiden etwas widerwillig auf. Anne ist Veras Nichte. Sie hat mit ihrem kleinen Sohn ihren Mann verlassen, weil dieser eine Andere hat. Vera, die kauzige Zahnärztin und Anna, die chaotische Musikerin, beginnen, den maroden Bauernhof zu renovieren - und finden endlich ein richtiges Zuhause.

Sparsam in ihren Gefühlen, traditionell, lakonisch, stur - Dörte Hansen spielt mit den typischen Klischees des norddeutschen Menschenschlages. Diese Eigenschaften werden umso prägnanter durch das gegensätzliche Auftreten von Städtern, Aussteigern mit der verklärten Vorstellung vom Leben auf dem Lande. Vera und Anne gehören nirgendwo dazu, sind überall fremd. Das kalte, marode Haus steht für ihre Sehnsucht, ihren Platz zu finden. Diesen Platz erobern sie sich schließlich, indem sie das Haus renovieren und damit gleichzeitig ihre Seele "aufräumen". Einfühlsam und witzig, gewürzt mit plattdeutschen Sätzen, porträtiert die Autorin in ihrem Debüt-Roman die Menschen ihrer Heimat. - Eine wunderbare Bettlektüre.

MS

Saša Stanišić: Herkunft

Luchterhand Literaturverlag

Jugoslawien, der Staat slawischer Völker im Südosten Europas - ein uns unbekanntes Gebiet. Zusammenschluss und Zerfall, neue Nationalstaaten, Kriege, Flüchtlingsströme und Friedensbemühungen - eine Welt, in der Christen, Muslime und Juden seit jeher versuchen, friedlich zusammenzuleben. Hier kommt 1978 Sasa Stanisic zur Welt.

"Herkunft" meint Lebensreise. Stanišić mischt Wahrheit und Fiktion, Biografisches und Erfindung. Dabei meinen wir den Sommer bei den Großeltern in Visegrad an der Drina zu riechen, staunen über das dortige Leben der bosnisch-serbischen Familie. Er nimmt uns auf seine abenteuerliche Flucht 1992 von Ost nach West mit. Die Erinnerung an die Großeltern, das Miterleben der unbefriedigenden Integration der Eltern in der Nähe Heidelbergs, seine dort erprobte jugendliche Rebellion und Standhaftigkeit befähigen ihn, Widrigkeiten immer ein Trotzdem entgegenzusetzen. Ein wunderbarer Autor und ein zu Recht gelobtes Buch.

EG

Carlos Ruiz Zafón: Marina

Verlag: Fischer

Der Internatsschüler Óscar Drai begegnet auf einem seiner Streifzüge durch die geheimnisvollen Villenviertel einem faszinierenden Mädchen - Marina. Mit ihrem Vater lebt sie in einer alten Villa wie in einer vergangenen Zeit. Marina bringt Óscar auf die Spur einer mysteriösen Dame in Schwarz.

In diesem Vorgänger-Roman seiner Bestseller-Trilogie beschwört Carlos Ruiz Zafón sein unnachahmliches Barcelona herauf, eine Stadt voller Magie und Leidenschaft. Dieser atemlos spannende Roman erzählt voller Poesie die Geschichte einer großen Liebe, aber auch von Menschen mit einem tragischen Schicksal, dem die beiden jungen Leute nach und nach auf die Spur kommen und in große Gefahr geraten. Es ist sowohl ein gruseliges, als auch ein sehr rührendes Buch, von dem ich kaum lassen konnte, bis ich es ausgelesen hatte.

MS

Elizabeth Strout: Mit Blick aufs Meer

Verlag: Luchterhand

In Crosby, einer kleinen Stadt an der Küste von Maine, ist nicht viel los. Doch sieht man genauer hin, ist jeder Mensch eine Geschichte und Crosby die ganze Welt. Elizabeth Strout fügt diese Geschichten mit liebevoller Ironie und feinem Gespür für Zwischenmenschliches zu einem schönen Roman. Ihre Charaktere erinnern an diejenigen von John Steinbeck. Ihre Individuen sind kauzig, widersprüchlich, einsam, freundlich, liebevoll, zickig, boshaft, arrogant, bescheiden - also ganz normale Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften. In dem Roman ist die ehemalige Lehrerin, Olive, die durchgehende Figur. Aus ihrer Sicht und mit ihren Vorurteilen schildert sie ihre Mitmenschen, die versuchen, ihr Leben zu leben. Es geht um Liebe und Kummer, um Toleranz und Wut. Wir alle finden uns in der einen oder anderen Person wieder. Ein weises und anrührendes Buch über die Natur des Menschen, gnadenlos ehrlich in all seiner Verletzlichkeit und Stärke, geschrieben mit viel Gefühl und großer Menschenkenntnis.

MS

Jojo Moyes: Weit weg und ganz nah

Verlag: Rowohlt Polaris

Jess, allein erziehende Mutter des Wunderkindes Tanzie und Nicky, der gerne Eyeliner trägt. Tanzie träumt von einem Mathematik-Stipendium im Internat St. Annes, Nicky wird von einer Bande gemobbt. Jess putzt die schicke Wohnung von Ed, einem Computergenie, der sie kaum wahrnimmt. Bis er versehentlich eine Tüte mit Geld in Jess Auto liegen lässt. Das wäre die Lösung, um Tanzie zu ihrer Chance zu verhelfen. Jess und Ed kommen sich näher, das Geld spielt gleichzeitig die Rolle als Bindeglied und Entfremdung zwischen den Beiden.

Moyes erzählt die spannende Geschichte mit viel Sinn für Realismus. Sie liebt ihre Protagonisten mit all ihren Fehlern und Schwächen. Und wie in allen ihren Büchern weiß die Leserin nie, welche Wendung die Geschichte im nächsten Kapitel nimmt. Ein zu Herzen gehender Roman, in dem auch der Humor nicht zu kurz kommt.

MS

Marc Levy: Solange du da bist

Aufbau Verlag

San Francisco, heute: Nach einem Autounfall liegt Assistenzärztin Lauren im Koma. Monate später zieht der Architekt Arthur in die Wohnung der Patientin. Eines Tages entdeckt er in seinem Badezimmerschrank die junge Frau, oder besser gesagt ihren "Geist" Damit beginnt für beide eine seltsame und verrückte Geschichte. Arthur verliebt sich in seine Mitbewohnerin. Gemeinsam mit seinem besten Freund Paul versuchen sie, Lauren aus dem Koma zu wecken. Arthur ist allerdings der einzige Mensch, der Lauren sehen und berühren kann. Inzwischen raten die Ärzte im Krankenhaus Laurens Mutter, die lebenserhaltenden Apparaturen abzuschalten. Arthur beschließt, Laurens Körper aus der Klinik entführen, um sie nicht zu verlieren.

Dem Roman gelingt es, die Balance zwischen Komik, Trauer, Romantik, aber auch zwischen Poesie und Witz zu halten. Eine moderne Liebesgeschichte mit schönen Gedanken, großartiger Situationskomik und komplexen Gefühlswelten. Das Buch wurde mit Reese Witherspoon auch verfilmt.

MS

Anne Kanis: Nichts als ein Garten

Metrolit Verlag, Berlin

"Aufrichtig und mit viel Empathie erzählt Anne Kanis' Protagonistin von Kindheit und Jugend in der DDR, von dem Zusammenhalt ihrer Familie, von der Verzweiflung des Vaters und der Angst der Mutter, von der Kunst und ihren Bedingungen - und von jenen, die nach der Wende, mit den Härten der neuen Lebenswirklichkeit konfrontiert, damit beginnen, sich mühsam zurechtzufinden. Die junge Ich-Erzählerin, eine Sängerin aus Ost-Berlin, hält sich mit schlecht bezahlten Angeboten über Wasser. Das Geld und die Kunst wollen sich nicht verbinden. Ihre Agentin vermittelt sie auf Firmenfeste, ihre Freundin drängt sie, eine Beziehung mit einem reichen Mann einzugehen. Bis sie schließlich auf den Einen trifft, der seinen 'Ofenrohrarm ' um sie legt - und nichts vorzuweisen hat als den Schrebergarten seiner Großmutter." (Klappentext)

Ein beeindruckender Wende-Roman, der deutlich macht, welchen Anforderungen sich die Bürger der ehemaligen DDR auf der Suche nach ihrem Weg in dem neuen Lebensumfeld stellen mussten.

RH

Marie-Sabine Roger: Das Leben ist ein listiger Kater

Verlag: dtv

Marie-Sabine Roger ist auch die Autorin von "Das Labyrinth der Wärter", und
"Der Poet der kleinen Dinge" beide im Bestand der Patientenbibliothek

Ein älterer Mann findet sich ohne Erinnerung daran, dass er aus der Seine gerettet worden war, in einem Krankenhaus wieder. Er ist einsam, schrullig und unleidlich. Trotzdem gelingt es seinen Besuchern: dem Retter, einem jungen Prostituierten, einem kleinen Mädchen, das ständig sein Laptop ausleihen will, dem Polizisten, der den Hergang des Unfalles untersucht und nicht zuletzt den Schwestern, ihm wieder Interesse am Leben zu vermitteln. Eine Geschichte, die auch von den Leiden und kleinen Freuden eines Krankenhausaufenthaltes erzählt..

Der Mann ohne Erinnerung ist der Ich-Erzähler in diesem Roman.
Trotz des sarkastischen Humores ist er ein sympathischer Einzelgänger. Er ist ein "schräger" Typ, dennoch schimmert in seiner Sicht der Schilderung
eine liebevolle Hinwendung zu Menschen durch, die sich mit dem Leben schwer tun. Sie zwingen ihn, sich mit ihnen auseinander zu setzen, führen ihn zurück in ein Leben voller Anteilnahme und reißen ihn aus seiner Einsamkeit.

MS

Anita Shreve: Die Nacht am Strand

Verlag: Piper

Das träumerisch anmutende Buchcover lässt nicht vermuten, dass eine gerade verwitwete, ziemlich junge Frau auf der Suche nach einer Aufgabe mit Familienanschluss in eine Familie gerät, die sich bald als etwas völlig Unheiles entpuppt. Die angehende Psychologin Sydney versteht sich nur als Beobachterin, als Betreuerin und Lehrerin der 18jährigen Tochter und kann sich gleichwohl nicht dem familiären Sog entziehen: Es zieht sie hinein. Sydney wird den jüngeren Sohn der Familie heiraten - obwohl sie Familiengeheimnisse spürt und Unausgesprochenes oder Angedeutetes nicht ergründen kann. "Poetisch, sinnlich und voller Dramatik schreibt Anita Shreve über das Zerbrechen einer Familie und die leidenschaftliche Suche einer Frau nach sich selbst" (Klappentext). Ein leichter, gut lesbarer Roman, der jedoch keine Schrecken oder Abgründe für den Lesenden bereit hält.

EG

Christiane Neudecker: Sommernovelle

Verlag: Luchterhand Literaturverlag

"Eine Coming-of-Age-Geschichte", die lesesüchtig macht" so M. Keller (Spiegel online). Ja, es ist ein leicht zu lesendes, unterhaltsames, gar nicht anstrengendes Buch. Zwei 15jährige süddeutsche Mädchen, die vom Alter her eigentlich noch nicht ehrenamtlich in einer Vogelschutzstation arbeiten dürften, sehen sich leise mit dem Erwachsenwerden konfrontiert: Kaffee, Wein, erste Liebe und handfeste Arbeitsaufträge - alles neu und wundervoll. Im traumhaften Frühsommer schimmert die Insel Sylt durch die Buchzeilen, der Name wird nie genannt. Schnell ziehen Nordsee und Vogelvielfalt der Insel die beiden Süddeutschen in ihren Bann, dann die geheimnisvollen Menschen der Station. Geheimnisvoll sind auch Andeutungen über die großen Sturmfluten im 14. und 17.Jh., durch die viel Küstenland mit der sagenhaften Stadt Rungholt unterging und Sylt entstand. Aber was wäre die Westküste ohne einen Hinweis auf den Dichter Schleswig-Holsteins Theodor Storm?

EG


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