Visual Universitätsmedizin Mainz

Arbeitsweise der Erhebungseinheit für Seltene Pädiatrische Erkrankungen in Deutschland (ESPED)

 

Hintergrund: Über lange Zeit gab es nur sehr geringe Kenntnisse über seltene und/oder plötzlich auftretende ungewöhnliche Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Dadurch gab es in den meisten Ländern weder geeignete medizinische, gesundheitspolitische noch wissenschaftliche Rahmenbedingungen zur Erfassung der jeweiligen Häufigkeiten und der aktuellen Versorgung inkl. Diagnostik und Therapie.

Vor Gründung von ESPED konnten in Deutschland keine epidemiologischen Untersuchungen zu solchen Erkrankungen durchgeführt werden. Aus diesem Grund wurde ESPED 1992 in Düsseldorf nach dem Modell der British Paediatric Surveillance Unit (BPSU) gegründet und arbeitet entsprechend internationaler Standards im International Network of Paediatric Surveillance Units (INOPSU). 

ESPED ist als Forschungsstelle für Pädiatrische Epidemiologie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin angegliedert und hatte bis Dezember 2020 ihren Sitz am Koordinierungszentrum für Klinische Studien der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Seit 2021 wird ESPED am Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik (IMBEI) der Universitätsmedizin Mainz betrieben.

 

Ziele: Ziele sind die Erfassung der Häufigkeit (Inzidenz, Prävalenz) sowie die klinische Charakterisierung und die Beschreibung der aktuellen klinischen Versorgung von i) seltenen pädiatrischen Erkrankungen, ii) neuen unbekannten Symptomkomplexen (Syndrome), iii) seltenen Komplikationen von häufigen Erkrankungen oder iv) seltenen oder neuartigen medizinischen Prozeduren. Damit soll die aktuelle epidemiologische Lage und Versorgungssituation beschrieben und eine Hypothesenbildung zur Konzeption neuer innovativer diagnostischer, therapeutischer und/oder präventiver Ansätze unterstützt werden, die in Maßnahmen zur Verbesserung der Situation betroffener Patienten münden.

 

Definition einer Erhebung: Eine Erhebung ist die zeitlich begrenzte Erfassung einer seltenen, vorab definierten Entität (Erkrankung, Syndrom, Komplikation oder Prozedur, s.o.) in die Surveillance durch ESPED. Eine Erhebung läuft in der Regel ein bis zwei Jahre bzw. bis zur Erreichung des jeweiligen Forschungsziels. Sie kann aber im Einzelfall – z.B. bei sich stark ändernden Inzidenzraten (Diabetes mellitus) oder bei hohem gesellschaftlichen Interesse – auch über einen längeren Zeitraum erfolgen. Es können parallel bis zu 12 Erhebungen zu 12 unterschiedlichen Entitäten durchgeführt werden, eine 13. Erhebungen zu einer akuten Problematik und mit kurzer Laufzeit (max. 12 Monate) ist möglich. 

 

Anforderungen an eine Erhebung: Eine Erhebung kommt nur unter folgenden Bedingungen in Betracht:

1) Die zu erfassende Entität ist im Kindes- und Jugendalter (bis zum vollendeten 18. Lebensjahr) selten genug, dass nur durch eine bundesweite Erhebung eine für die Erhebungszwecke ausreichende Fallzahl erreicht werden kann. 

2) Die zu erfassende Entität führt zwingend zu einer stationären Aufnahme an einer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland. Regional beschränkte Erhebungen zu häufigeren Entitäten können im Rahmen von ESPED in einigen Fällen sinnvoll sein, müssen aber begründet werden.

 

Setting: Alle öffentlichen und privaten teilnehmenden Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland. Zurzeit nehmen rund 90% dieser Kliniken an ESPED teil.

 

Ein- und Ausschlusskriterien: Grundvoraussetzung für die Meldung eines Falles über ESPED ist die stationäre Aufnahme an einer an ESPED teilnehmenden Klinik. Krankheitsspezifische Ein- und Ausschlusskriterien (wie z.B. Alter, Geschlecht, Diagnose) werden jeweils gesondert für die einzelnen Erhebungen festgelegt.

 

Design: ESPED entspricht einer Krankenhaus-basierten geclusterten Querschnittstudie mit repetitiver monatlicher Wiederholung. Die Erfassung der Daten erfolgt retrospektiv. Die Daten werden erst nach Abschluss des stationären Aufenthaltes und Vorliegen aller Ergebnisse von den teilnehmenden Kliniken an ESPED übermittelt. Dort werden die Daten zwischengespeichert, bereinigt, vergröbert und qualitätsgesichert zur weiteren wissenschaftlichen Analyse an die jeweilige Studienleitung der Erhebung weitergeleitet.

 

Datenerfassung: Im Rahmen der ESPED-Erhebungen werden monatlich alle teilnehmenden Kliniken mit der Frage kontaktiert, ob in ihrer Einrichtung Patient*innen mit einer der Entitäten neudiagnostiziert und/oder behandelt wurden, die aktuell von ESPED in der Surveillance erfasst werden (sog. Fallmeldung). Um ein aktives Erfassungssystem („active surveillance“) zu garantieren, erfolgt bei Nichtzutreffen eine Nullangabe zu den entsprechenden Entitäten. Bei Positivantwort erfolgt die Versendung eines Links zu einem erhebungsspezifischen (spezifisch für die jeweilige Entität) webbasierten Fragebogen an die berichterstattende Klinik durch die ESPED-Geschäftsstelle. Dieser klinische Fragebogen erfasst anonymisierte Daten zur Demographie und Krankheitsgeschichte sowie z.B. Ergebnisse von diagnostischen Tests, Details zu den angewandten Therapien und zur stationären Prognose. Da bis zu 13 Entitäten parallel erfasst werden, sind ebenfalls bis zu 13 unterschiedliche klinische Fragebögen im Einsatz. 

 

Vorteile: Alleinstellungsmerkmale von ESPED umfassen eine Validierung von gemeldeten Fällen über klinische Fragebögen und eine tiefergehende Charakterisierung der Fälle zur Generierung von Hypothesen zu z.B. Krankheitsursachen, Pathophysiologie, Verlauf und Prognose. Insofern bietet ESPED mehr Informationen als sie z.B. aktuell durch Abrechnungsdaten für Krankenkassen zur Verfügung stehen.

 

Zielgrößen und biometrische Aspekte: Die primären und sekundären Zielgrößen werden von den Studienleitungen festgelegt und sind von der jeweiligen Entität abhängig. Meist ist die primäre Zielgröße die Inzidenz (oder Prävalenz) der jeweiligen Entität in der deutschen pädiatrischen Bevölkerung. Dazu wird eine populationsbezogene Inzidenz (oder Prävalenz) mit 95%-Konfidenzintervall geschätzt: Die erfasste Anzahl inzidenter Fälle wird in Relation zur entsprechenden Grundgesamtheit aller Kinder in Deutschland gesetzt. Diese Grundgesamtheit wird über die Anzahl der Kin-der, die in Deutschland aktuell gemeldet sind und potentiell erkranken können (z.B. in Abhängigkeit von Geschlecht und Alter), bestimmt. Aufgrund möglicherweise unterschiedlicher Teilnahmequoten von Kliniken in den regionalen Clustern wird ggf. eine Adjustierung der Schätzer durch Nutzung von Populationsgewichten (inverse probability weighting) durchgeführt. Sekundäre Zielgrößen umfassen – je nach Erhebung – die klinische Symptomatik, Komorbiditäten, Ergebnisse von diagnostischen Prozeduren, Details der ausgewählten Therapien sowie die Prognose.

 

Berichte und Publikationen: Die Daten werden von den Studienleitungen jährlich ausgewertet und sowohl im ESPED-Jahresbericht als auch in einer Kurzform in der Monatsschrift Kinderheilkunde veröffentlicht. Die Studienleitungen sind darüber hinaus verpflichtet, die Ergebnisse zeitnah in einem wissenschaftlichen Journal mit Peer Review Verfahren zu veröffentlichen.

 

Grundsätze des Datenschutzes: Prinzipiell ist festzuhalten, dass die erhobenen Daten den medizinisch-wissenschaftlichen Bereich nicht verlassen. Die Daten werden durch Ärzt*innen an Kliniken erhoben, an eine zentrale Klinik (ESPED ist Teil der Universitätsmedizin Mainz) weitergegeben und von dort an die Studienleitung an einer Klinik oder öffentlich-rechtlichen Forschungseinrichtung (z.B. Robert-Koch-Institut) übermittelt. Eine Weitergabe der Daten an am Forschungsprozess nicht beteiligte Personen (Privatpersonen, private Institutionen, Öffentlichkeit) ist ausgeschlossen. Die ESPED-Erhebungen beruhen auf einem webbasierten Meldeportal, das anonymisierte Daten (d.h. ohne Name und Adresse) aus Kliniken zentral erfassen kann. Die Daten werden bei der ESPED Geschäftsstelle am IMBEI gespeichert und von dort qualitätsgesichert zur wissenschaftlichen Analyse an die jeweiligen Studienleitungen der Erhebung weitergeleitet. Vor der Weitergabe werden Merkmale wie meldende Klinik, Geburts- und Aufnahmedatum sowie Wohnort-PLZ weiter vergröbert oder entfernt, um eine Re-Identifizierung eines Falles zu erschweren. Details sind in einem Datenschutzprotokoll ausgearbeitet.

 

Antragstellung und Rolle der Studienleitung: Erhebungen können von allen Wissenschaftler*innen in Deutschland mit entsprechender Expertise im Forschungsgebiet bei der ESPED Geschäftsstelle beantragt werden. Die Studienleitung ist vollumfänglich verantwortlich für die Definierung der Ziele, die zu erhebenden Merkmale, die Auswertung und Publikation der Erhebung. Für die Antragsstellung sind die entsprechenden Hinweise zu beachten.

 

Rolle der Geschäftsstelle: Anträge für die Aufnahme von Entitäten in die Surveillance durch ESPED sind bei der Geschäftsstelle zu stellen. Die Geschäftsstelle hat seit 2021 ihren Sitz am IMBEI der Universitätsmedizin Mainz und unterstützt Neuantragstellende mit folgenden Leistungen:

  1. Unterstützende methodische Beratung bei der Konzeption und Analyse einer Erhebung
  2. Bereitstellung von informationstechnologischer Infrastruktur für die Durchführung der Erhebung
  3. Betrieb eines Meldeportals und einer Datenbank für die Durchführung der Erhebung 
  4. Durchführung einer monatlichen digitalisierten Datenerhebung an Kliniken in Deutschland 
  5. Speicherung, Bereinigung und Archivierung der Daten aus der Erhebung
  6. Fortwährende Kontrolle der Einhaltung der Bestimmungen des Datenschutzes
  7. Nach Abschluss der Erhebung Bereitstellung und Weitergabe der erhobenen Daten

 

Rolle des wissenschaftlichen Beirats: Die Erhebungen von ESPED werden von einem wissenschaftlichen Beirat gesteuert. Dieser regelt Anzahl und Art der durchzuführenden Erhebungen und begutachtet Ziele und Methoden jeder einzelnen Erhebung. Die Zusammensetzung des Beirats obliegt der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Meist sind Pädiater*innen, Epidemiolog*innen und Vertreter*innen von Einrichtungen der öffentlichen Gesundheit vertreten. Der Beirat tagt regelmäßig 2- bis 3-mal im Jahr, bei besonderen Erfordernissen auch öfter. Der Beirat bewertet die Eignung von neu beantragten Erhebungen und entscheidet über Verlängerungen von bereits laufenden Erhebungen. Wenn nötig, werden unabhängige Experten des jeweiligen Gebietes hinzugezogen.