Wenn Menschen wegen einer Krebserkrankung den Kehlkopf ganz oder teilweise entfernt bekommen, verändert sich ihr Leben schlagartig. Das kann auch darin münden, dass die Betroffenen im Nachhinein unzufrieden mit der Behandlung sind oder diese gar bereuen. Eine Studie des Instituts für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik (IMBEI) in enger Kooperation mit der Hals-Nasen-Ohrenklinik und Poliklinik (HNO) der Universitätsmedizin Mainz belegt, wie wichtig es ist, die Patient:innen in die Entscheidung für solche Eingriffe eng einzubinden. Die Ergebnisse wurden in JAMA Otolaryngology - Head & Neck Surgery veröffentlicht, einer renommierten Zeitschrift für HNO-Heilkunde.
Der Kehlkopf (Larynx), der sich zwischen dem Rachenraum und dem Beginn der Luftröhre befindet, ist wichtig für die Atmung, für den Schutz der Lunge vor einer Aspiration beim Essen und Trinken und, über die in ihm befindlichen Stimmbänder, für das Sprechen. Die weitaus häufigste Ursache für eine Entfernung des Kehlkopfes (Laryngektomie) ist Kehlkopfkrebs, der in der Schleimhaut des Kehlkopfes entstehen kann. Dabei kann der Kehlkopf vollständig oder nur teilweise entfernt werden. Wird er komplett chirurgisch entfernt, endet die Luftröhre in einer neuen Öffnung im Hals, dem Tracheostoma, über das direkt geatmet wird. Das bisher übliche Sprechen ist dann nicht mehr möglich. Man kann nur so genannte „Ersatzstimmen“ mit oder ohne Hilfe einer chirurgisch implantierten Stimmprothese zwischen Luftröhre und Speiseröhre erlernen. Das bringt erhebliche Veränderungen und auch Einschnitte für das Leben der Betroffenen mit sich. Beispielsweise müssen Patient:innen die Atmung und die Stimmgebung neu lernen bzw. trainieren.
„Ärzt:innen bekommen manchmal von Patient:innen nach der Operation des Kehlkopfes eine große Unzufriedenheit oder gar Enttäuschung über die Behandlungsentscheidung zu spüren“, berichtet Prof. Dr. Susanne Singer vom IMBEI, die mit ihrem Team die Studie „Patients‘ Reflections on Treatment Decision after Surgery for Laryngeal Cancer“ betreut hat. „Wir wollten wissen, ob die Mehrheit der Betroffenen diesen Eingriff im Nachhinein bereut. Falls dies der Fall wäre, müsste man vorsichtiger zu einer entsprechenden Operation raten. Wenn nicht, stellt sich die Frage, was man tun kann, um eine Enttäuschung zu verhindern oder zumindest zu verringern“, so Singer weiter.
Langzeituntersuchung bei 780 operierten Menschen in 16 deutschen Krankenhäusern
Um eine solche Frage beantworten zu können, müssen über viele Jahre Daten gesammelt und die Patient:innen langfristig begleitet werden. Über 15 Jahre hinweg hat das Team in 16 deutschen Krankenhäusern Patient:innen vor und nach einer Kehlkopfkrebs-Operation persönlich besucht und befragt. Dazu setzten sie sowohl standardisierte Interviews als auch Fragebögen ein. Sie befragten insgesamt 780 Teilnehmende, wie zufrieden sie mit ihrer Entscheidung zur Operation im Nachhinein sind. Das betraf sowohl Patient:innen mit einer vollständigen als auch jene mit einer teilweisen Kehlkopfentfernung. Weitere Variablen, die in die Auswertungen einflossen, waren unter anderem das Alter, das Geschlecht, der Bildungsstand, der Erhalt einer Strahlen- oder Chemotherapie, die Lebensqualität oder die Fähigkeit zum verständlichen Sprechen nach der Operation. Ebenfalls wurde erhoben, ob die operierten Patient:innen von einer Selbsthilfegruppe beraten worden sind und ob eine gemeinsame Entscheidung mit dem Behandelnden getroffen wurde (Shared Decision Making).
Eindrücke wurden persönlich erfragt
“Neu war, dass wir alle Patient:innen vor der Operation persönlich gesehen und befragt haben. Außerdem haben wir ein Jahr nach dem Eingriff alle Teilnehmenden zu Hause besucht und die Befragung wiederholt“, erklärt Susanne Singer den methodischen Ansatz. Das sei aufwändig und mit hohem Personaleinsatz verbunden gewesen, aber „dadurch haben wir eine große Vielfalt an Erfahrungen einfangen können. Die Ergebnisse sind somit repräsentativer, als wenn wir die Fragebögen einfach nur verschickt hätten.“
Entscheidend ist, wie Patient:innen mitentscheiden können
Die wichtigste Erkenntnis der Studie: Die allermeisten Personen bereuten ihre OP-Entscheidung nicht. Dies war auch unabhängig von dem Ausmaß des Eingriffes, also ob der Kehlkopf ganz oder nur teilweise entfernt wurde. Auffallend war, dass diejenigen, die vor der Operation eine Beratung durch Patientenbetreuer:innen des Bundesverbandes der Kehlkopfoperierten (d. h. durch eine entsprechend ausgebildete Person einer Selbsthilfegruppe vor Ort) bekommen hatten, im Nachhinein zufriedener mit der Operation waren. Ein weiterer wichtiger Punkt: Wenn Patient:innen sich wünschten, die Therapie selbst mitzuentscheiden, die Ärzte dies aber nicht berücksichtigten, bereuten diese Personen später – also ein Jahr nach der Operation - ihre Entscheidung mehr als die anderen Befragten.
„Die hohe Bedeutung der Beratung durch Selbsthilfegruppen und von Shared Decision Making ist bisher oft angenommen worden, aber es gibt wenige Studien, die das im Langzeitverlauf untersuchen konnten“, resümiert Susanne Singer. Die Studie belege nun diese Annahmen. „Für die Ärzt:innen bedeutet das in der Praxis, Patient:innen frühzeitig und umfassend in jegliche Entscheidungsfindung bei einer lebensverändernden Operation einzubeziehen und sie zu ermutigen, dafür auch Hilfe und Beratung durch geschulte Patientenbetreuer:innen der Selbsthilfegruppe in Anspruch zu nehmen.“
Zur vollständigen Publikation: Patients’ Reflections on Treatment Decision after Surgery for Laryngeal Cancer
Kontakt:
Prof. Dr. Susanne Singer, Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik, Universitätsmedizin Mainz, Telefon 06131 17-5835, E-Mail susanne.singer@uni-mainz.de
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