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Mainzer Kolloquium zur Geschichte Theorie und Ethik der Medizin



Thema

Geburtsmaschinen und Reproduktionen. Eine Einführung in die ambulante Wissenschaft

Gastdozent

Martina Schlünder (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Zum Vortrag

1901 durchlebte der jüngste Assistenzarzt der Freiburger Frauenklinik (und spätere Ordinarius für Frauenheilkunde), August Mayer (1876-1968), ein Geburtstrauma der besonderen Art. Er wurde – am ganzen Körper mit Schmierseife bedeckt – von seinem Oberarzt, Hugo Sellheim (1871-1936), in eine „überlebensgroße“ Geburtsmaschine geschoben und blieb darin stecken. Geburtsmaschinen dienten Anfang des 20. Jahrhunderts der physiologischen Erforschung der Geburtsmechanik. Darunter versteht man den – unter mechanischen Gesichtspunkten – höchst komplizierten Vorgang, den Kinder während der Geburt im Körper der Mutter durchlaufen: also die Rotationen, die Haltungs- und Stellungswechsel, die die besonderen anatomischen und topologischen Eigenschaften des (mütterlichen) „Geburtskanals“ dem „Geburtsobjekt“ (kindlichen Körper) abverlangen.

August Mayer verfasste über seine Reise durch das Innere der Geburtsmechanik einen Text, der mir als Exkursionsbasis dient, um die verschiedenen Reproduktionsmechanismen des Lebendigen, des Wissens, der Disziplinen und der Geschlechter in der damaligen Forschungspraxis, der Klinik und der akademischen Institution zu untersuchen und Fragen nach dem Fortbestand und der Gültigkeit dieser Mechanismen zu stellen. Es ist dabei nicht vorrangig, diese Episode aus der Experimentalisierung eines klinischen Fachs historisch in die Geschichte der Geburtshilfe einzuordnen, sondern eine Methode vorzustellen – hier ambulante Wissenschaft genannt – die es ermöglichen soll, neue (interdisziplinäre) Forschungsfelder zu eröffnen und dabei vor allem die komplexe Beziehung zwischen Theorie/Begriff (in diesem Fall, den der ‚Reproduktion’) und Praxis in den Blick zu bekommen.

Zum Gastdozenten

Dr. med. Martina Schlünder studierte Medizin in Berlin und Brasilien mit klinischer Arbeit in der Neurologie und Psychiatrie. Sie promovierte 2007 in Medizingeschichte an der Charité-Berlin mit einer Arbeit zur Geschichte der Experimentalisierung der Geburtshilfe. Ihre akademischen Positionen waren u.a. als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Charité, Universitätsmedizin Berlin von 2004-2005 und Research Fellow am Department für Social Studies of Medicine, McGill University, Montréal, Canada. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Giessen mit dem Forschungsprojekt ‚Geschichte des Wissens- und Technologietransfers zwischen Human- und Veterinärmedizin und die Geschichte der Tier-Mensch-Beziehungen am Beispiel der Unfallchirurgie 1950-2000’ (DFG), in Kooperation mit dem Projekt ‚Patients, Models, Therapeutic Agents: Human-Animal Relationships in Western Health Care’ (SSHRC/Social Sciences and Humanities Research Council of Canada) . Frau Schlünder’s Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der klinischen Medizin im 20. Jahrhundert, die historische Epistemologie, Epistemologie und Biographie Ludwik Flecks, Geschichte der Tier-Mensch-Beziehungen, Transdisziplinarität und Translationale Medizin in den Lebenswissenschaften und der Biomedizin (Human- und Veterinärmedizin), sowie das Geschlecht als analytische Kategorie in der Geschichte der Medizin.

Publikationen (Auswahl)

Reproduktionen. Experimentalisierungen der Geburtshilfe zwischen 1900 und 1930. Eine Dichte Beschreibung. Med. Diss. Charité Berlin, Mikrofiche 2007; Die Herren der Regel/n? Gynäkologen und der Menstruationskalender als Regulierungsinstrument der weiblichen Natur“, in: Borck C, Hess V, Schmidgen H,: Maß und Eigensinn, Versuche im Anschluss an Georges Canguilhem, München: Fink 2005, S. 157-195.


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