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Univ.-Prof. Dr. Norbert W. Paul, M. A.
Univ.-Prof. Dr. Norbert W. Paul, M. A.
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Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin,

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Arbeitsprojekte

Univ.-Prof. Dr. Norbert W. Paul, M. A.

Geschichte, Konzepte und Normative Dimensionen der Regenerativen Medizin

Bearbeiter

Univ.-Prof. Dr. Norbert W. Paul, M.A.

Kontakt

 npaul@uni-mainz.de

Kooperation

Dr. med. Heiner Fangerau, Düsseldorf, Prof. Dr. Timothy Lenoir, Stanford

Sachstand

DFG-Antrag zur Anschubförderung in Vorbereitung (Einreichung 1. Quartal 2005), Antrag auf Anschlussförderung durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz in Vorbereitung

Ausgangspunkte:

Bild Regenerative Medizin

Aus medizin- und wissenschaftshistorischer Sicht sind es vor allem frühe Arbeiten zur Teratogenese, die Mitte des 19. Jahrhunderts eine in Biologie und Medizin gleichermaßen wahrgenommene Annäherung an das Konzept der Regeneration von Geweben und Organen darstellen (COLE 1992). Mit Arbeiten zur experimentellen Embryologie, insbesondere zur Kultivierung von Zelllinien in vitro, die Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, führten zu einer weiteren Ausformulierung des Konzepts der Regeneration in Biologie und Medizin.

Erste Visionen einer Regenerativen Medizin zur Beherrschbarkeit degenerativer Vorgänge entstanden (TURNEY 1995). Aufbauend auf eher generellen Theorien, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts vornehmlich in Deutschland – etwa von August Weismann, Carl Naegeli und Otto Bütschli – formuliert worden waren, bildet sich eine auf Laborpraktiken und den Aufbau von Experimentalsystemen gestütztes Arbeitsgebiet heraus, das bald auch die Aufmerksamkeit öffentlicher Debatten auf sich zog (TURNEY 1995). In diesen Debatten – die in Ansätzen und lediglich kursorisch für die Wahrnehmung der Arbeiten von Jacques Loeb und Alexis Carrel untersucht sind – tauchen bereits Grundzüge einer Auseinandersetzung mit den normativen Dimensionen der Regenerativen Medizin auf. Dabei korreliert die zunehmende Fokussierung auf ethische Fragen offenbar mit einem Wandel auf systematischer Ebene. Wie sieht dieser grundlegende Wandel aus?

Während Studien zur Teratogenese und zu so genannten „Monstrositäten” (COOPER 2004) die Beobachtung und Beeinflussung von biologischen Prozessen der Regeneration zum Gegenstand hatten, gingen spätere Arbeiten wie die von Jacques Loeb (PAULY 1987) gegen Ende des 19. Jahrhunderts und Alexis Carrel zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Teilnahme an und Gestaltung von biologischen Prozessen im Labor über (PAULY 2000). Die Debatte über die Zulässigkeit technischer Kontrolle oder gar künstlicher Erzeugung biologischer Regeneration wurde sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern der Idee einer Regenerativen Medizin vehement geführt. Metaphern, wie die vom „Herz im Glas”, die im Zusammenhang mit Arbeiten Alexis Carrels zur Kultivierung schlagender, glatter Herzmuskelzellen in vitro geprägt wurden, deuten bereits die Eckpunkte des normativen Streits an: Darf der Mensch als Schöpfer der Natur agieren und zur Gestaltung seiner selbst übergehen? Wie ist das Verhältnis von Wissenschaft zur Natur, wie das von Technik zur Natur? Kommt dem „Natürlichen” eine normative Kraft zu? Was ist erlaubt, was geboten im Umgang mit der als gottgegeben angesehenen Gabe der Regeneration? Was bedeutet medizinischer Fortschritt? Wie weit sind Eingriffe in Abläufe der Natur im Sinne der Medizin zulässig?

Das Aufbrausen der Wertedebatte um regenerative Verfahren in Biologie und Medizin verebbte rasch, als in den 1920er und 1930er Jahren deutlich wurde, wie weit die experimentellen Ansätze noch von ihrer Anwendung in der Medizin entfernt waren, wenn nun auch vor dem Hintergrund kulturkritischer Thesen von der allgemeinen Degeneration vermehrt auf die verjüngende Kraft der biologischen Regeneration hingewiesen wurde (VORONOFF 1928). Viel zu sehr überlagerten neue Themen aus dem Bereich der Medizin – nicht zuletzt das der Eugenik – die öffentliche Aufmerksamkeit.

Anfang des 20. Jahrhunderts waren es vor allem Studien in experimenteller Embryologie sowie insbesondere die Krebsforschung (ROUS 1911; BOVERI 1914), die sich zellbasierte Verfahren zunutze machten. Erst mit dem Voranschreiten der Reproduktionsmedizin sowie der experimentellen Verknüpfung von Humangenetik und Zellbiologie geriet die Regenerative Medizin wieder ins Blickfeld. Die treibenden Kräfte dieser etwa Mitte der 1980er Jahre beginnenden Renaissance scheinen vor allem in einem stetig wachsenden Bedarf an Verfahren zur funktionalen Wiederherstellung von Geweben und Organen zu liegen.

Dieser wird in der immer breiteren Anwendung der Transplantationsmedizin (SCHLICH 1998) – bei zunehmender Organknappheit – wie auch in einer epidemiologischen Verschiebung hin zu so genannten degenerativen Erkrankungen in zunehmend alternden Gesellschaften vermutet. Die technologische Gestaltbarkeit biologischer Prozesse hat damit ohne Zweifel zugenommen (PAUL 2003; PAUL 2003; PAUL and GANTEN 2003), die Grundthemen der normativen Debatten sind jedoch weitgehend unverändert geblieben (PAUL and LABISCH 2002).

Fragestellung:

Das Projekt untersucht die Entwicklungsgeschichte, die Konzepte und die normativen Dimensionen der Regenerativen Medizin. Dabei werden in einem ersten Schritt Ideen und Konzepte in ihre historische Abfolge eingeordnet und verschiedenen Sphären zugeordnet. Dies sind die Sphären der Ideen, der Konzepte, der Forschung, der Anwendung, der Kritik und der Öffentlichkeit.

In der Sphäre der Ideen wird – in einem kulturhistorischen Ansatz – den Visionen der biologischen Regeneration und ihren Ausbreitungswegen nachgespürt. Dies bildet gleichsam einen Prolog zur Auseinandersetzung mit der Umsetzung der Regenerativen Medizin und ihrer Rezeption. Zentrale Quellen werden programmatische Texte sein, die sich aus unterschiedlichster Perspektive mit dem Topos der biologischen Regeneration befassen, so beispielsweise „Artificial creation of life”, 1905 von Garret Serviss, „The mechanistic conception of life”, 1912 von Jacques Loeb oder die Verhandlungen auf Steuerungsebene der Rockefeller Foundation.

Die Vorstufe der Umsetzung beginnt in der Sphäre der Konzepte. Hier wird aus historiographischer Sicht zu fragen sein, auf welche Weise Ideen der Regeneration im Bereich der Wissenschaft aufgegriffen wurden und wie sie in ersten, vorläufigen Konzepten als wissenschaftliche Agenda formuliert wurden. Als Quellen werden hier insbesondere strategische Publikationen von Vertretern der Regenerativen Medizin und ihren Vorläufern – etwa der genannten zellbiologischen Forschung – sowie aus Randgebieten – etwa dem der Transplantationsmedizin – herangezogen.

Die Analyse der Sphäre der Forschung befasst sich im Wesentlichen mit der Frage, wie Ideen der Regenerativen Medizin im Labor erste Gestalt annahmen und dabei gleichzeitig unter den Bedingungen der biologischen und medizinischen Wissensproduktion ihre Gestalt veränderten. Unter Bezug auf Arbeiten zur Bedeutung von Experimentalsystemen und zur kritischen Epistemologie der Wissenschaften (RHEINBERGER 1997; KNORR-CETINA 1999) wird dieser Arbeitsschritt die wesentlichen Voraussetzungen für die Analyse auf den Ebenen „Anwendung”, „Kritik” und „Öffentlichkeit” schaffen. Hier werden vor allem Originalpublikationen und Briefwechsel zu untersuchen sein. Der Briefwechsel Jacques Loebs mit einer Vielzahl von Vertretern der sich mit Fragen der Regeneration befassenden Scientific Community liegt vor und wird von den Kooperationspartnern in das Projekt eingebracht. Neben den konkreten Bedingungen des Forschens können so auch unpublizierte epistemiologische Überlegungen der Protagonisten und deren Einfluss auf ihr Tun rekonstruiert werden. Weitergehende Studien sind insbesondere in den Archiven der biologischen Forschungsstation in Neapel sowie in den Archiven der Rockefeller Foundation wie auch in den Special Collections der Stanford Library und der University of California San Diego vorgesehen.

Die Sphäre der Anwendung umfasst alle Ansätze, die zur Überführung von Verfahren der Regeneration in medizinische Anwendungen unternommen wurden. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur Sphäre der Forschung ist, dass die kontrollierte, geschlossene und normierte Umgebung des Forschungslabors hier gegen das prinzipiell offene biologische Universum von in-vivo-Anwendungen getauscht wird. Das wesentliche Augenmerk wird der Übersetzung von Ergebnissen der Grundlagenforschung in den Kontext klinischer Anwendungen und dem dort veränderten Bewertungskriterien für „gute” oder „erfolgreiche” Wissenschaft gelten. Diesen Arbeiten liegt der gleiche Quellenbestand zugrunde, wie den Arbeiten zur Sphäre der Forschung, jedoch mit einem vermehrten Augenmerk auf Publikationen in medizinischen Fachjournalen sowie auf Anträge zur Förderung von Forschungsprojekten mit medizinischen Bezügen.

In der Sphäre der Kritik wird vor allem die kritische Auseinandersetzung mit Ideen, Konzepten, Forschungen und Anwendungen aus dem Bereich der Regenerativen Medizin innerhalb der Scientific Community untersucht. Die wissenschaftliche Bonität der Regenerativen Medizin – oder um es zeitgemäßer zu formulieren: ihre Validität, Spezifität und Sicherheit – standen nach ihrer ersten Konjunktur lange Zeit zur Debatte. Erst seit Ende der 1990er Jahre zeichnet sich hier eine Wende ab. Worauf aber lassen sich diese wissenschaftlichen Konjunkturen der Regenerativen Medizin zurückführen? Dies wird die zentrale Frage sein, die in der Sphäre der Kritik zu beantworten ist. Als Quellen werden vor allem Publikationen in fachübergreifenden Wissenschaftsjournalen wie auch in der Presse herangezogen.

In der Sphäre der Öffentlichkeit schließlich wird die öffentliche Wahrnehmung der regenerativer Verfahren von ihren Anfängen bis hin zur jüngsten Geschichte und zur Gegenwart analysiert. Wie verändern sich Ideen und Konzepte, sobald sie in die öffentliche Wahrnehmung gelangen? Welche Wechselverhältnisse, welche Reflexivität (GIBBONS, LIMOGES et al. 1994; NOWOTNY, SCOTT et al. 2001), bestehen zwischen Wissenschaft, Medizin und Öffentlichkeit in Bezug auf die Formulierung und Wahrnehmung der Regenerativen Medizin? Die Rekonstruktion des öffentlichen Diskurses wird vor allem auf der Basis der Analyse von Zeitschriften und größeren Meldungen in der Tagespresse wie auch popularisierenden Journalen (z.B. Scientific American) erfolgen.

In einem abschließenden Schritt werden die Ergebnisse der Analysen in den verschiedenen Sphären im Sinne einer rekonstruktiven Analyse – nun in der Diktion einer rekonstruktiven Ethik (PAUL 1997; PAUL 2003) – zur Durchleuchtung der normativen Debatten um die Regenerative Medizin der Gegenwart herangezogen. Es ist insbesondere von Seiten der so genannten Social Studies of Science bzw. den Science and Technology Studies in jüngerer Zeit beklagt worden, dass sich die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte immer wieder gesellschaftlich und normativ relevanten Themenfeldern zuwendet, ohne die damit verbundenen Vorannahmen explizit zu machen. Konkreter gefasst bedeutet dies, dass sich immer mehr historiographische Studien mit den Vorbedingungen gesellschaftlicher Entscheidungsfindungen befassen, aber dennoch in erschreckender Weise für diese Prozesse irrelevant bleiben (WINNER 1993; HAMLETT 2003). Ähnliche Kritik wird auch auf epistemischer Ebene geäußert. Spätestens hier wird der transdisziplinäre Charakter der Problemstellung deutlich, die weit über eine bloße Methodendiskussion in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte hinausreicht und grundlegende Fragen der Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsforschung einschließt. In besonderem Maße sind konstruktivistische Ansätze ins Kreuzfeuer geraten, deren Relevanz angesichts des bestehenden gesellschaftlichen, kulturellen oder gar normativen Klärungsbedarfs in Frage gestellt ist. So betont etwa der Philosoph Ronald Giere:

„Social constructivists have had precious little to say about science or technology policy. I suspect this silence is not an accident. If one takes seriously the position that science and technology are social constructs, the only policy advice one can give is to improve one’s use of the rhetoric of science and technology to persuade others of one’s point of view and to build cohesive social networks” (GIERE 1993).

An dieser fundamentalen Kritik setzt das hier zur Förderung vorgeschlagene Projekt an, indem es den Brückenschlag zwischen Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin versucht. Auf der Basis der historiographischen Befunde sollen die wesentlichen Koordinaten des gegenwärtig gegebenen Entscheidungs- und Problemraumes destilliert werden, um so Orientierungswissen für die zunehmend unübersichtlich werdende Debatte um die Regenerative Medizin gewinnen zu können. Dabei soll keine wie auch immer privilegierte normative Position vertreten werden, sondern es wird im Wesentlichen um eine kritische Hinterfragung der Wertgeladenheit wissenschaftlicher und medizinischer Konzepte, Forschungen und Anwendungen einerseits und ihrer Kommunikation und Rezeption andererseits gehen. Damit ist Geschichte der Regenerativen Medizin im Sinne Lily Kays auch eine Genealogie ihrer Zukunft (KAY 2000), aber sie ist mehr als das: Sie versteht sich als Beitrag, Missverständnisse und Mythen, die uns den Blick auf die wesentlichen normativen Fragen in gegenwärtigen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen verstellen, zu de-konstruieren.


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